Mader : Fakten - Fälle - Fotos®
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6.1 Thoraxschmerzen

Zusatzinfo

37 % der Patienten, die sich mit Brustschmerzen in den USA in der Ambulanz einfanden, hatten letztlich muskuloskelettal bedingte Schmerzen. Dennoch stellt der Thoraxschmerz aufgrund der in der Allgemeinpraxis zwar seltenen, aber akut bedrohlichen Ursachen wie Herzinfarkt und Lungenembolie (vgl. auch FFF Kap. 13.3.4 "Lungenembolie" und sPESI-Score) hohe Anforderungen an die hausärztliche Diagnostik.


Tabelle. Differenzialdiagnostische Hinweise beim akuten Notfall „Leitsymptom Thoraxschmerz“ (Sönnichsen u. Donner-Banzhoff 2006)

 

Akuter Myokardinfarkt

Instabile Angina pectoris

Akute Lungenembolie

Spannungs-pneumothorax

Schmerzbeginn

Plötzlich

Plötzlich oder subakut

Plötzlich

Perakut

Schmerzdauer

Dauerschmerz
> 20 min

Dauerschmerz
> 20 min

Dauerschmerz
> 20 min

Dauerschmerz
> 20 min

Schmerzcharakteristik

Dumpf, drückend, einengend

Dumpf, drückend, einengend

Stechend

Schneidend

Atemabhängigkeit

Nein

Nein

Eventuell

Ja

Lokalisation

Meist retrosternal-links, tief in der Brust liegend („viszeral“), oft nicht genau lokalisierbar

Meist retrosternal-links, tief in der Brust liegend („viszeral“), oft nicht genau lokalisierbar

Links oder rechts

Links oder rechts

Schmerzausstrahlung

Linke Schulter, linker Arm, Kiefer

Linke Schulter, linker Arm, Kiefer

Links oder rechts

Links oder rechts

Befund

Uncharakteristisch, evtl. positiver Schockindex, Lungenstauung oder Lungenödem bei Linksherzversagen

Uncharakteristisch

Eventuell abgeschwächtes Atemgeräusch, evtl. Zyanose, evtl. gestaute Halsvenen, evtl. Tachykardie und RR-Abfall

Einseitig abgeschwächtes Atemgeräusch, einseitig hypersonorer Klopfschall, evtl. gestaute Halsvenen

Vegetative Begleitsymptome

Kalter Schweiß, Todesangst, Übelkeit, Erbrechen

Meist geringer ausgeprägt als beim Infarkt

Möglich bei ausgedehnter Embolie

Tachy- oder Bradykardie

Dyspnoe

Ausgeprägt, meist bereits in Ruhe, bes. bei Belastung, Orthopnö

Teils ausgeprägt, bes. bei Belastung

Ausgeprägt, lageunabhängig

Ausgeprägt, progredient, rasche Verschlechterung

Beachte auch die Tabelle in "Mader: Fakten - Fälle - Fotos" im Kap. 6.3.1 "Mögliche Ursachen des Brustschmerzes"!


Übersicht. Beispiele für verschiedene Ursachen, die zu akutem Brustschmerz führen können.

Kardial

  • Akutes Koronarsyndrom
  • Perikarditis

Vaskulär

  • Aortendissektion
  • Lungenembolie
  • Pulmonalarterielle Hypertonie

Pulmonal

  • Pleuritis und/oder Pneumonie
  • Tracheobronchitis
  • Spontanpneumothorax

Gastrointestinal

  • Ösophagealer Reflux
  • Ulcus ventriculi/duodeni
  • Gallenblasenerkrankung
  • Pankreatitis

Muskuloskeletal

  • Interkostalneuralgie
  • Rippenprellung, -fraktur
  • Affektion der BWS

Infektiös

  • Herpes zoster (Frühphase)

Psychisch

  • Panikattacke

Marburger Herz- Score

Zweck, Anwendung und beispielhafte Bewertung des Marburger Herz- Scores werden auf der E- Plattform der Abteilung für Allgemeinmedizin, Prävention und Rehabilitative Medizin der Universität Marburg beschrieben.
https://www.uni-marburg.de/fb20/allgprmed/forschung/projekte/mhs/mhs-intro.html

 


Fallbeispiel

Kasuistik 6.1-1: „Beim Kardiologen noch nichts Besonderes gefunden“

Ein 30-jähriger Kraftfahrer mit kardiovaskulären Risikofaktoren (Adipositas, starkes Rauchen, Bewegungsmangel und Hypercholesterinämie) wurde im Sommer wegen atemabhängiger Thoraxschmerzen von einem Kardiologen untersucht: kein Hinweis auf KHK.

4 Monate später stellte sich derselbe Patient im kassenärztlichen Notfalldienst wegen ähnlicher Beschwerden vor: Schmerzen in Brustkorb und Rücken seit 2 h, schlimmer beim Einatmen, ausstrahlend in den linken Arm. Von der Allgemeinärztin wird nach körperlicher Untersuchung – auch angesichts der Vorgeschichte – der Verdacht auf eine „Interkostalneuralgie“ bzw. ein Thorakalsyndrom geäußert und Ibuprofen verordnet. 2 Monate später wird der junge Mann notfallmäßig wegen eines ausgedehnten Vorderwandinfarktes in eine Klinik aufgenommen.

Es kommt zur Klage gegen die Ärztin, da nach Ansicht des Klägers bereits damals eine koronare Durchblutungsstörung vorgelegen habe und der gefährliche Verlauf im Notdienst bei gründlicher Untersuchung inkl. EKG hätte abgewendet werden können. Das Gericht ordnete ein Bußgeld von 5000 Euro an, da die Allgemeinärztin ihre „Sorgfaltspflicht verletzt“ habe.

(Fallbeispiel von A. Wiesemann 2009)

Stichwörter:

  • Atemabhängige Thoraxschmerzen
  • Interkostalneuralgie
  • Vorderwandinfarkt
Kommentar:

Suchen Patienten mit Schmerzen im oder am Brustkorb Rat beim Hausarzt, so handelt es sich – im Gegensatz zur Notfallaufnahme im Krankenhaus – selten um einen Notfall (ähnlich auch im vertragsärztlichen Notfalldienst); umso wichtiger ist die ausreichend sichere Klärung der ambulanten Situation, um einen gefährlichen Verlauf abzuwenden.

Neben Beinvenenthrombose und Appendizitis ist es immer wieder der Herzinfarkt, der – falls vom Hausarzt übersehen oder „zu spät“ behandelt – die Gerichte beschäftigt.

Zwar ist die Situation des Kraftfahrers etwas ungewöhnlich, kennzeichnet jedoch die besondere Problematik: Anamnestisch sprach zwar viel für Schmerzen von Seiten der linken Thoraxwand, trotz der Risikofaktoren war die Vortestwahrscheinlichkeit eher niedrig; zudem zeigte der Patient keine typische Angina pectoris. Allerdings waren noch die auffälligen Risikofaktoren zu berücksichtigen. Die vermutete „Interkostalneuralgie“ wäre möglicherweise einer therapeutischen Lokalanästhesie gewichen. Allerdings hätte das Ruhe-EKG eine zusätzliche Information geliefert, wenn auch nur mit einer Sensitivität von 30 %. Dieser – unnötige – Verzicht auf das EKG hatte also die Verwarnung der Ärztin zur Folge. Ob weitere Diagnostik daraus resultiert hätte, muss offen bleiben; eine stationäre Einweisung schien in der Tat nicht zwingend. Ein Restrisiko für eine Fehldiagnose bleibt auch in der Klinik.

Merke
Bei uncharakteristischen Thoraxschmerzen gehört das Ruhe-EKG trotz eingeschränkter Aussage zum diagnostischen Standard.

Kasuistik 6.1-2: „Beim Spazierengehen leichtes Ziehen. Meine Frau macht sich so Sorgen.“

Der 68-jährige Pensionär stellt sich in der Hausarztpraxis vor, weil sich seine Frau Sorgen macht, da er einige Male beim Spazierengehen ein leichtes Ziehen in der Herzgegend verspürte.

Nach dem SOAP-Schema ergibt sich für diesen Patienten folgendes Bild:

  • Subjektiv in den letzten Monaten einige Male für wenige Minuten leichtes Ziehen und etwas Druck im Brustkorb beim Bergaufgehen („könnte auch vom Magen kommen oder nervös sein, verschwand von selbst wieder“).
  • Objektiv nur ungünstiges Cholesterin von 250 mg/dl, HDL 39, LDL 170 mg/dl, keine weiteren Risikofaktoren, RR 130/85 mmHg.
  • Assessment/Beurteilung: Bild einer stabilen Angina pectoris, differentialdiagnostisch Reflux möglich, andere gastrointestinalen Ursache oder funktionelle Beschwerden sind unwahrscheinlich.
  • Plan: Belastungs-EKG wegen Vortestwahrscheinlichkeit > 67 % und Therapieindikation, bei Skepsis des Patienten mit pathologischem Ergebnis (Abbildung). Mit den ST-Senkungen von > 3 mm/0,3 mV in den Brustwandableitungen V4-6 bei 125 W und leichtem Ziehen zum Hals hin besteht jetzt (bei einer Spezifität von 90 %) lt. Tabelle eine Nachtestwahrscheinlichkeit für KHK von 99 %.

Da der Pensionär dem Angebot der Herzkatheter-Diagnostik ablehnend gegenüber steht, das auch hausärztlicherseits gegenwärtig als zwingend angesehen wurde, kam die konservative therapeutische Option mit Betablocker, ASS und Statin zum Tragen, bedarfsweise Nitro. Ein kardiologisches Konsil wurde für den Fall einer unbefriedigenden Therapie vereinbart. Der Patient wurde ins DMP KHK eingeschlossen.

(Fallbeispiel von A. Wiesemann 2009)

Stichwörter:

  • Ziehen in der Herzgegend bei Belastung
  • Bild einer stabilen Angina pectoris
  • Abgelehnte Herzkatheter-Diagnostik
  • Konservatives Vorgehen
Übung:

EKG-Ausschnitt
EKG-Ausschnitt (li) in Ruhe und nach Belastung (re) Pensionär (68 Jahre) (Quelle: Der Hausarzt 3/09)

Kasuistik 6.1-3: „So starke Schmerzen im Rücken bis ins Herz hinein“

Die 72-jährige Patientin wacht in den frühen Morgenstunden auf, um die Toilette aufzusuchen. Kurz nach dem Aufstehen empfindet sie „starke Schmerzen im Rücken bis ins Herz hinein“, so dass sie, unterstützt durch ihren Ehemann, wieder ins Bett sinkt. Der Hausarzt wird gerufen, weil ein Herzinfarkt befürchtet wird. Bekannt sind Hypertonie und Osteoporose.

Bei der Untersuchung fällt nur ein Klopfschmerz im Bereich von BWK 12 auf, Kreislaufverhältnisse sowie neurologischer Befund sind normal; das am Bett angefertigte Ruhe-EKG weist im Vergleich zum älteren, mitgeführten EKG keine Veränderungen auf. Nach der Gabe eines oralen Analgetikums und Aufklärung über die vermutete osteoporotische Wirbelkörper-Sinterfraktur wird eine weitere ambulante Behandlung vereinbart.

Mit ihrem Korsett und Analgetika konnte die Patientin nach 8 Tagen wieder im Haushalt mitarbeiten.

(Fallbeispiel von A. Wiesemann 2009)

Stichwörter:

  • Starke Rückenschmerzen bis ins Herz
  • Vermutete osteoporotische Wirbelkörperfraktur
Kommentar:

Die Vortestwahrscheinlichkeit für eine KHK liegt bei etwa 20 % (nicht-anginöser Brustschmerz). Als AGV müssen bei einer 72-Jährigen vor allem Herzinfarkt und Lungenembolie bedacht werden. Unter Berücksichtigung der folgenden 7 Kriterien war die Entscheidung des Hausarztes als angemessen und richtig zu bewerten, weil:

  • keine KHK-Anamnese,
  • kurzer stechender Schmerz,
  • lokaler thorakaler bzw. Wirbelkörper-Druck-/Klopfschmerz, Bewegungsabhängigkeit,
  • eher atemunabhängiger Schmerz (allenfalls kurz stechend),
  • keine Thromboserisikofaktoren,
  • keine Verdauungssymptomatik (Dysphagie, Erbrechen),
  • keine Zeichen eines schweren Verlauf (z. B. RR-Abfall, Schweißausbruch, Atemnot)
Übung:

Röntgenbild
Abbildung: Ausgeprägte Osteoporose der Wirbelsäule im Röntgenbild (Quelle: Der Hausarzt 3/09)

Kasuistik 6.1-4: „Im Büro so stechende Schmerzen in der Brust und im Rücken“

Die 51-jährige Patientin, die in einem Büro arbeitet, sucht wegen stechender Schmerzen in der Brust und im Rücken gegen 15.00 Uhr die Nachmittagssprechstunde auf: „Die Schmerzen haben nach dem Mittagessen begonnen und sind dann langsam schlimmer geworden. Ich fühle mich einfach nicht mehr wohl und würde am liebsten nach Hause gehen. Ich habe in letzter Zeit öfter mal derartige Schmerzen und auch Kreuzschmerzen. Ich sitze den ganzen Tag vor dem Bildschirm und bin etwas überarbeitet. Vielleicht können Sie mir für meinen Arbeitgeber eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung geben.“ Die Patientin raucht 15 Zigaretten/Tag, keine wesentlichen Vorerkrankungen oder sonstige kardiovaskuläre Risikofaktoren. RR 125/85 mm Hg, Muskelverspannungen nuchal und paravertebral, sonst unauffälliger körperlicher Befund, unauffälliges Ruhe-EKG.

Die Patientin bekommt ihre AU, der Allgemeinarzt dokumentiert „vertebragenes Syndrom“ (ICD-10 M54.1) und empfiehlt, bei Bedarf Paracetamol zu nehmen und sich sofort zu melden, wenn die Beschwerden wider Erwarten schlimmer werden. Am nächsten Tag Anruf aus der Klinik: Die Patientin sei am Vorabend wegen eines akuten Hinterwandinfarkts stationär aufgenommen worden.

(mod. Sönnichsen u. Donner-Banzhoff 2006)

Kommentar:

Von derartigen „Fehlern“ in der Allgemeinpraxis ist immer wieder zu hören. Diese Fälle verdeutlichen das hausärztliche Dilemma, einerseits keinen ernsthaft Erkrankten mit dem Symptom Thoraxschmerz zu übersehen und andererseits aber auch nicht durch überkonsequente Abklärung dieses Symptoms eine hohe Zahl an falsch positiven Befunden zu produzieren, die in vielen Fällen unnötige, teuere und für den Patienten belastende invasive Untersuchungen nach sich ziehen.

Die niedrige Sensitivität des Ruhe-EKGs hinsichtlich der Diagnostik eines akuten Myokardinfarkts oder Koronarsyndroms ist bekannt. Dennoch wird man es bei Verdacht auf eine akute kardiale Erkrankung durchführen. Das Ergebnis sollte aber vor allem im negativen Fall mit gleicher Vorsicht behandelt werden wie ein negativer Troponin-Test. Es fließt in die hausärztliche Gesamtbeurteilung der Wahrscheinlichkeit für ein kardiales Ereignis ein, ohne für sich genommen den Infarkt zu beweisen oder auszuschließen.

Bei Patienten mit atypischen Beschwerden und geringem Risiko für eine KHK ist also in Anbetracht der geringen Prätestwahrscheinlichkeit ein abwartendes Offenlassen in geteilter Verantwortung mit dem Patienten nicht nur ausreichend, sondern sogar geboten.

Kasuistik 6.1-5: "Als würde mir der Kopf abspringen"

Der gemütliche 40-jährige Arbeiter hat uns seit seiner Geburt als Hausärzte. Zuletzt war er vor einem halben Jahr hier zur „Leberkontrolle“ („Ich trinke halt gern ein bisschen“).

Heute kommt Herr G. außerhalb der Sprechstunde um 18.30 Uhr. Seit dem Vortag Schmerzen im gesamten vorderen Thoraxbereich, so dassich mich nicht zu atmen getraue“und die so stark in den Hals ausstrahlen „als würde mir der Kopf abspringen“.

Übung:

Überlegungen und Fragen

  1. Was fragen Sie den Patienten?
  2. Welche Untersuchungen bzw. Maßnahmen veranlassen Sie in der eigenen Praxis ggf. in Zusammenarbeit mit dem Spezialisten in Klinik oder Praxis?
  3. Möglicherweise zu bedenkende(r) AGV?
  4. Abwartendes Offenlassen des Falles oder aktiv werden?
  5. Programmierte Diagnostik? Wenn ja, mit welcher Checkliste?
  6. Welches Beratungsergebnis formulieren Sie?
  7. Arbeitsruhe?
  8. Geteilte Verantwortung?

Kasuistik 6.1-6: Bestrahlung als gravierender Risikofaktor

Eine 63-jährige Frau wurde vor 3 Jahren wegen Mammakarzinom operiert (Lumpektomie), strahlen-und chemotherapeutisch behandelt. Nichtraucherin, kein Diabetes. In der Sprechstunde jetzt : "Ich habe seit einigen Wochen immer wieder Schmerzen in der linken Schulter, gelegentlich im Unterkiefer, besonders bei körperlicher Anstrengung".

Kommentar:

Die Beschwerden dieser Frau sind nicht nur per se verdächtig; als gravierenden Risikofaktor weist die Patientin eine voran gegangene Strahlentherapie auf. Die Assoziation zwischen Strahlenbehandlung und KHK tauchte erstmals 1994 in einer Studie auf, in der die Todesursachen von langzeitüberlebenden Frauen nach Brustkrebs untersucht wurden. Obwohl die therapeutische Strahlendosis in der letzten Dekade immer weiter absank, sollten Frauen, die wegen eines Mammakarzinoms bestrahlt wurden, in Bezug auf oft untypische, KHK-verdächtige Beschwerden besonders aufmerksam beobachtet und - falls klassische Risikofaktoren vorhanden und soweit möglich - intensiv behandelt werden. (Quelle: DEGAM-Benefit.ZFA (2013) 11:436 Original: Darby et al (2013))

Mögliche Lokalisationen von Beschwerden bei Angina pectoris
Mögliche Lokalisationen von Beschwerden bei Angina pectoris (Der Allgemeinarzt 4/2009, ''Stabile Angina pectoris; Leitsymptome, Diagnostik und Therapie''; Prof. Dr. med. Andreas Mügge)

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