Mader : Fakten - Fälle - Fotos®
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1.9 Zeitfaktor

Zusatzinfo

„Der Allgemeinarzt mussin kurzer Zeit zu einem Urteil kommen, das sich weder auf eine erschöpfende Anamnese noch auf eine Durchuntersuchung von Kopf bis Fuß, noch auf aufwändige und zeitraubende Laboratoriumsmethoden stützen kann. Er muss, mit anderen Worten, ohne die in der Klinik und vor allem die in der Universitätsklinik übliche ‚Redundanz‘ zu einer diagnostischen Einordnung seiner Probleme kommen.“

(Th. v. Uexküll in Braun 1970).


Wissenswertes

Kein Staat der Erde verfügt über genügend Mittel, um bei jedem einzelnen Erkrankten eine tiefschürfende ärztliche Befragung und Untersuchung finanzieren zu können. Die Regeln der klinischen Diagnostik können nicht einmal bei dem kleinen Bruchteil jener Patienten voll eingehalten werden, deren Versorgung im hoch spezialisierten Krankenhaus erfolgt (Braun 1970).


Routine als mögliche Fallgrube

In der Allgemeinpraxis liegt zwischen dem Vorbringen der Beratungsursache und der erforderlichen Benennung des Falles (Beratungsergebnis) meistnur eine kurze Zeitspanne.

Bei solchen kurzen Beratungszeiten kommt der Allgemeinarzt nicht ohne Routine aus. Das Urteil über Wert oder Unwert seiner Tätigkeit hängt jedoch weitgehend davon ab, ob er völlig in der Routine aufgeht oder nicht. Ein Arzt berichtete (den Schrecken noch in den Gliedern) von folgendem, noch glimpflich ausgegangenen Sprechstundenereignis (s. Kasuistik 1.9-1):


Nicht immer ist es jedoch der Zeitdruck alleine, der den Arzt von einer systematischen Vorgehensweise abhält, sondern es kann auch unangebrachte Rücksicht auf den Patienten sein (Kasuistik 1.9-3).


Langzeitbetreuung

Die Patienten wissen offensichtlich um die Zeitknappheit ihres Hausarztes („Ich weiß, Herr Doktor, Sie haben keine Zeit ...“), obwohl sie diese häufig genug als „Minutenmedizin“ beklagen. Dennoch wünschen sie sich in Umfragen an vorderer Stelle „daß mein Hausarzt immer Zeit für mich hat“.

Wenn ein Hausarzt berichtet, dass an einem Stichtag von 360 gegenwärtig behandelten Patienten 165 (= 46 %) seit über 10 Jahren in seiner Betreuung standen (wobei der größte Teil dieser 165 Patienten gleichzeitig an > 3 Krankheiten litt) (Kochen 2006), dann scheint vielen dieser Patienten, die sich einer jahrelangen hausärztlichen Betreuung anvertrauen, vielleicht auch bewusst zu sein, dass „ihr Doktor“, über die Jahre hinweg gesehen, durchaus einige Stunden an Zeit mit seinen Patienten verbringt: Die zunächst gering erscheinenden Kontakt-Kleinzeitwerte können sich im Laufe der Jahre zu einer beachtlichen Gesamtkontaktzeit aufsummieren: Bei „Nur“ 4 Kontakten pro Quartal à 8 Minuten ergeben sich zumindest rechnerisch für ein 25jähriges Praktikerleben immerhin gut 53 Stunden für den Arzt-Patienten-Kontakt.


Zeitfaktor: Realität und Herausforderung

Die Allgemeinpraxis wird also durch den Zeitfaktor sehr wesentlich geprägt. Man muss ihn akzeptieren, will man die angewandte Medizin begreifen. Braun hatte bereits 1963 („Die Allgemeinpraxis und der Zeitfaktor“) nachgewiesen, dass selbst unter idealen Bedingungen bei der Masse der Patienten nur unter 10 Minuten kalkuliert werden kann. Eine Vergleichsstudie aus derselben Praxis 15 Jahre später kam zu denselben Ergebnissen. Die Dauer der einzelnen allgemeinmedizinischen Beratungen zeigt bei verschiedenen Autoren relative Übereinstimmung (Tabelle).

 

Tabelle. Durchschnittliche Dauer von Patienten-Arzt-Kontakten in Allgemeinpraxen.

Autor

Zeit (Min)

Bemerkungen

Braun (1963)

9,5

Erstberatungen

 

8,6

Wiederholungsberatungen

 

11,4

Erstbesuche (ohne Fahrtzeit)

 

9,4

Wiederholungsbesuche

Knoblauch und Adam (1966)

4,2

neue Patienten

Eberlein (1974)

5,7

Erst- und Wiederholungsberatungen

Ahrendt (1979)

5,8

Erstberatungen

Abelin (1981)

13,8

Erst- und Wiederholungsberatungen

Kerek et al. (1982)

10,0

Erst- und Wiederholungsberatungen


Fallbeispiel

Kasuistik 1.9-1 „Der Weiterbildungsassistent hatte sorgfältiger gearbeitet als der hektische Chef“

Die Mutter suchte als Patientin die Vormittagssprechstunde auf. Dabei hatte sie ihr 4jähriges Kind mitgenommen, da es sonst zu Hause unbeaufsichtigt gewesen wäre. Nachdem die Mutter versorgt war, verlangte sie im „Hinausgehen“ die Verordnung von Fieberzäpfchen und Hustensaft für das Kind. Der Hausarzt, der unter Sprechstundendruck stand, stellte die Wunschverordnung aus; da das Kind keinen besonders auffälligen Eindruck gemacht hatte, verzichtete er auf eine Untersuchung.

Der im selben Sprechzimmer anwesende Weiterbildungsassistent untersuchte jedoch anschließend programmiert mit der Checkliste Nr. 1 (Fieber-Programm): Dabei ergab sich ein elektiver Palpationsschmerz am McBurney-Punkt, ohne dass weitere Beschwerden hätten erhoben werden können. Eine Stunde später war das Kind appendektomiert.

Stichwörter

  • Wunschverordnung ohne Untersuchung.
  • Programmierte Untersuchung mit Fieber-Programm (Checkliste Nr. 1).
  • Bild einer Appendizitis.
Kommentar:

Nochmals glimpflich ausgegangen ist für den Kollegen dieses Sprechstundenereignis, das er offen und selbstkritisch in einer der Braun-Gruppen vorgetragen hatte. Der Fall lehrt mehreres:

  • Patientenwünscheoder Patientenbemerkungen beim „Hinausgehen“ bedürfen einer besonderen, mindestens der selben Aufmerksamkeit wie im regulären Patienten-Arzt-Gespräch.
  • Wunschverordnungen „über den Schalter“, ohne dass der Arzt also den Patient zumindest direkt untersucht hat, sollten die absolute Ausnahme bleiben.
  • Die Programmierte Diagnostik erfordert in der Regel keinen größeren Zeitaufwand; zudem ist sie der intuitiven-individuellen Vorgehensweise überlegen.

Kasuistik 1.9-2 „So müde beim Autofahren“

Ein 55jähriger Geschäftsmann, der es immer eilig hat, kommt in die volle Abendsprechstunde: „Um es kurz zu machen: Ich bin seit Wochen todmüde beim Autofahren, so dass ich manchmal schon am Steuer eingeschlafen wäre. Vielleicht ist es die neue Klimaanlage? Seither auch Augenbrennen und trockene Lippen. Obwohl ich gerne Schoko esse, nehme ich an Gewicht ab. Nicht viel, aber immerhin.

Übung:

Überlegungen und Fragen

  • Welche weiteren Fragen würden Sie dem Patienten stellen?
  • Wie schätzen Sie die Dringlichkeit dieses Falles ein? Abwartendes Offenlassen? Wie lange?
  • Welche(n) abwendbaren(n) Verlauf (Verläufe) würden Sie bedenken?
  • Welche Diagnostik würden Sie angesichts der vollen Sprechstunde sofort, welche eventuell später in der eigenen Praxis durchführen oder veranlassen?

Kasuistik 1.9-3 Möglichst immer ausziehen lassen!

Im Wochenenddienst werde ich zu einem 5 Monate alten Knaben gerufen. Er war vor 2 Wochen im Krankenhaus gewesen. Heute Nacht hätte er geschrien. Sein Hausarzt wäre schon dort gewesen, hätte eine Mittelohrentzündung festgestellt und ein Antibiotikum rezeptiert. Einige Stunden später finde ich das Kind schlafend. Ohren und auch sonst unauffällig. Mit Rücksicht auf den bereits erfolgten Besuch des Hausarztes will ich den Säugling schonen und verzichte auf eine Bauchuntersuchung. Als sich die Mutter aber beklagt, dass kein Stuhl abgeht, inspiziere ich doch das Abdomen und entdecke eine irreponibel inkarzerierte Hernie. Sofortige Einweisung.

(Dr. med. W. F. in S.)

Stichwörter

  • Mittelohrentzündung bei Säuglingen?/Inkarzerierte Hernie
Kommentar:

Es ist scheinbar unverständlich, wenn ein Allgemeinarzt bei einem nachts schreienden Kind eine Mittelohrentzündung feststellt und behandelt, von der Sie einige Stunden nachher nichts mehr finden können. Als erfahrener Kollege kann man aber doch rekonstruieren, wie sich das wahrscheinlich abgespielt hat: Zunächst weiß jeder ältere Praktiker, dass bei nächtlich schreienden Kindern, ohne dass sich ein Hinweis auf etwas anderes findet, „fast immer“ eine Mesotitis acuta vorliegt, besonders dann, wenn das Kind aufs Ohr greift.

 

Die Programmierte Diagnostik mittels Checkliste Nr. 49 („Ohrenschmerzen-Programm“) sieht zwar ausdrücklich keine Untersuchung des Abdomens vor, bei Säuglingen und Kleinkindern sollte jedoch neben der obligaten örtlichen Diagnostik die Palpation des Abdomens und eine Prüfung auf meningitische Zeichen zum Routineuntersuchungsgang gehören – gerade auch bei unbekannten Patienten. Die Bemerkung der Mutter hat Sie glücklicherweise auf die richtige Fährte gebracht.

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