Mader : Fakten - Fälle - Fotos®
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2.1.6 Untersuchungsgang und abwendbar gefährliche Verläufe

Zusatzinfo

Programmierte Diagnostik

Alle uncharakteristischen Fieberfälle sowie deren fieberfreie Varianten sollten möglichst programmiert untersucht werden, auch wenn sie (zunächst) als leicht erscheinen. Tags darauf kann die Lage bereits anders sein. Die Programmierte Diagnostikmittels Checkliste 

- für uncharakteristische Fieberfälle und deren fieberfreie Varianten (afebrile Allgemeinreaktion)

ist ein über die Jahrzehnte hinweg fortlaufend weiter entwickeltes und bewährtes Instrument. Bei einem leicht Kranken lassen sich damit vielfältige allgemeine Symptome wie Abgeschlagenheit oder Schweiße neben örtlichen Symptomen wie Halsschmerzen, Husten, Kopf- oder Brustschmerzen erfassen. Bedeutsam gerade beim Fieber-Programm ist der erste Eindruck des Arztes, ob der Patient schwerkrank wirkt oder nicht. Ein mäßig fiebernder, aber matt, mit gelblicher Gesichtsfarbe im Bett liegender älterer Patient muss ganz anders beurteilt werden als ein bei 40 Grad Fieber relativ munter wirkendes Kind. Bei gerötetem Trommelfell (Myringitis) empfiehlt sich ebenfalls die Checkliste Nr. 1. Dieses Symptom kann ebensogut von einer bakteriellen lokalen wie von einer viralen Allgemeinerkrankung herrühren (Mader und Brückner 2019).

Die Programmierte Diagnostik mittels ihrer "Checklisten nach Braun für Anamnese, Untersuchung und Dokumentation" in der völlig neu überarbeiteten 6.Auflage von Mader und Brückner (2019) berücksichtigt die wesentlichen abwendbar gefährlichen Verläufe ebenso wie die wesentlichen ähnlichen Beschwerdebilder (Übersicht).

 

Übersicht zu Programm Nr.1 (Fieber). Wesentliche abwendbar gefährliche Verläufe (AGV) und ähnliche Beschwerdebilder (mod. Fink et al. 2010) in loser Reihung

-  Diverse Kinderkrankheiten, Otitis media, Pneumonie, Tonsillitis, Appendizitis, Zystitiden,
   Pyelonephritis
, Cholezystitis, Sepsis, Abszedierung/ Phlegmone, Malaria, SalmonellosenTyphus u.v.a.m.
   als "typische" Krankheiten mit Fieber
-  Arzneimittelfieber
-  Subakute Thyreoiditis
-  Fieber unbekannten Ursprungs (FUO)
-  Rhinitis acuta, Husten, Halsschmerzen, Luftwegekatarrhe u.a. 
   als einzelne/ kombinierte Symptome ohne Allgemeinerscheinungen
-  Anämie 
-  Apendizitis (bei Älteren!)
-  Peri-/ Myokarditis
-  Diabetes mellitus
-  Konsumierende Erkrankungen


Bild einer Sepsis

Die WHO-Definition der Sepsis von 2018 ist für die Allgemeinpraxis auf den ersten Blick nicht sehr hilfreich: "Sepsis ist eine fehlregulierte Antwort des Körpers auf eine Infektion verbunden mit einem lebensbedrohlichen Organversagen". Eher lässt die bis 1992 gültige (und seit 1914 bestehende) Definition von H. Schlottmüller den Allgemeinarzt an eine Sepsis denken: „Eine Sepsis liegt dann vor, wenn sich innerhalb des Körpers ein Herd gebildet hat, von dem kontinuierlich oder periodisch pathogene Bakterien in den Kreislauf gelangen und zwar derart, dass durch diese Invasion subjektive und objektive Krankheitserscheinungen ausgelöst werden.“ Diese Definition setzt freilich den Nachweis eines Infektionserregers in der Blutkultur für eine exakte Diagnose voraus. Auch das ist in der Allgemeinpraxis nur im Ausnahmefall die Regel.

Die Sepsis stellt einen klassischen abwendbar gefährlichen Verlauf dar. Die Sterblichkeit der Sepsis wird durch Intensivmediziner zwischen 20 bis 50% angegeben und liegt damit deutlich höher als beim Herzinfarkt oder Schlaganfall. Einige Personengruppen sind besonders gefährdet: Schwangere, Frühgeborene, ältere Menschen, Menschen mit einer Immunschwäche und mit chronischen Erkrankungen.
 

Um eine frühzeitige exakte Diagnose und Therapie  im Spezialbereich  zu ermöglichen, ist es gerade für den "Arzt an der ersten Linie" immens wichtig, das Bild einer Sepsis früh zu erkennen - oder zumindest zu bedenken.  Allerdings sind die typischen Sepsis-Symptome sehr unspezifisch. Dadurch wird eine Sepsis von Patienten (und auch von Ärzten) oft mit einer "Erkältung" oder einer "Grippe" verwechselt. So geht bis viel Zeit verloren.

Merke
Jeder Mensch mit einer Infektion kann eine Sepsis entwickeln. Sepsis ist ein Notfall, bei dem jede Stunde für das Überleben zählt! 

Bei den nachfolgend aufgeführten unspezifischen Zeichen, insbesondere in einer Kombination ab 2 Zeichen (z.B. Fieber mit Schüttelfrost und Verwirrtheit) sollte ein akut erkrankter Patient solange als potentiell septisch betrachtet werden, bis das Gegenteil bewiesen ist:

  • Schweres Krankheitsgefühl
  • Verwirrtheit / Unruhe / Schläfrigkeit / Bewusstlosigkeit
  • Atemnot / schnelle Atmung
  • Schneller Herzschlag / fadenförmiger Puls / geringer Blutdruck
  • Nachlassende Urinausscheidung/ dunkler Urin / Durst
  • Zentralisiert / kalte und durchblutungsgestörte Arme und Beine
  • Fieber / Schüttelfrost

"Wir hämmern unseren Leuten in der Klinik ein, dass sie auch an eine Sepsis denken müssen, wenn beispielsweise ein verwirrter Patient mit Verdacht auf Schlaganfall eingeliefert wird" (PD Matthias Gründling, Leiter des Projektes "Sepsisdialog" an der Uniklinik Greifswald).
https://www.medizin.uni-greifswald.de/sepsis/en/sepsis/erkennen/


Merke
Bei Fieber nach Rückkehr von einer Fernreise ist – neben weiteren Reiseinfektionen (Tabelle) immer an eine Malaria zu denken.

Tabelle. Typische Inkubationszeiten ausgewählter Reiseinfektionen (Blair 2004)

< 10 Tage

Dengue-Fieber

Fleckfieber (Rickettsia rickettsii: 2-14 Tage)

Reisediarrhö

Gelbfieber

10-21 Tage

Enterische Fieber (Typhus, Paratyphus)

Leptospirose

Malaria

Flecktyphus

virale hämorrhagische Fieberinfektionen

> 21 Tage

Akute HIV-Infektion

Amöben-Leberabszess

Malaria

Tuberkulose

virale Hepatitiden (Hepatitis A selten auch < 21 Tage)


Malariaprophylaxe
Personen mit längeren oder häufig wiederholten Tropenaufenthalten bedürfen einer erweiterten und vertieften, ausführlichen individuellen tropenmedizinischen Beratung, bei der u. a. das zu erwartende Malariarisiko nach Tätigkeit, Region, Jahreszeit, Vorerkrankungen, Lebensalter, Resistenz der Erreger und Verträglichkeit der Expositionsprophylaxe sowie der möglichen Medikamente beurteilt wird.

Zur ganzjährigen Chemoprophylaxe empfohlen sind von der Deutschen tropenmedizinischen Gesellschaft (DTG):

  • Mefloquin (Lariam®) oder
  • Atovaquon/Proguanil (Malarone®) oder
  • Doxycyclin.

Alle 3 Präparate haben spezifische Nebenwirkungen, die mit dem Reisenden besprochen werden müssen. Eine sehr hilfreiche Übersicht über CDC (Centers for Disease Control and Prevention) http://www.cdc.gov/malaria/travelers/drugs.html

DTG (Deutsche tropenmedizinische Gesellschaft) http://www.dtg.org/23.html

Leitlinien zur Therapie der Malaria (Deutschland)
Deutsche Gesellschaft für Tropenmedizin und internationale Gesundheit: Diagnostik und Therapie der Malaria AWMF-Register Nr. 042/001, letzte Aktualisierung August 2011: www.awmf.org/leitlinien/detail/II/042-001.html

Inkubationszeit
Die minimale Inkubationszeit beträgt 6-7 Tage, später als 3 Monate nach Verlassen des Malariagebiets ist bei Europäern nicht mehr mit einer Malaria tropica zu rechnen. Bei Immigranten sind allerdings auch längere Inkubationszeiten möglich.

Diagnostik
Auch Ergebnisse des Blutbilds (typisch: Thrombozytopenie) und der Laborchemie können eine Malaria nicht ausschließen (Burchard 2011).

Merke
Jedes unklare Fieber ab dem 7. Tag nach erstmaligem Betreten eines Malariagebiets - aber auch mehrere Monate später, selten Jahre nach Rückkehr -  ist bis zum Beweis des Gegenteils malariaverdächtig.


Fallbeispiel

Kasuistik 2.1.6-1: Kaufmann musste sterben. Vier Ärzte haben versagt

Leider tragisch ging der Fall eines 40-jährigen Kaufmanns aus München aus, der vor Jahren für erhebliches Aufsehen in der Boulevard-Presse gesorgt hatte („Kaufmann musste sterben. Vier Ärzte haben versagt“): Die Ehefrau des Betreffenden hatte am Samstag in aller Frühe den diensthabenden Arzt angerufen, weil ihr Mann sehr hohes Fieber habe. Der Kollege kam am Vormittag, untersuchte, diagnostizierte einen „grippalen Infekt“ und verordnete Bettruhe und Aspirin®.

Um 19 Uhr am selben Tag rief die Ehefrau erneut den Notfalldienst an: Das Fieber sei jetzt wieder gestiegen und betrage jetzt sogar 39,9°. Ihrem Mann gehe es sehr schlecht. Diesmal kam eine Notärztin. Die las die „Diagnose“ des Vorgängers („grippaler Infekt“), untersuchte und verordnete ein Antibiotikum mit der Bemerkung: „Eigentlich braucht Ihr Mann gar kein Antibiotikum bei einem grippalen Infekt. Da müssen Sie Geduld haben.“ Mit Blick auf die Frau: „Nur zu Ihrer Beruhigung gebe ich halt jetzt ein Antibiotikum, das Ihr Mann noch heute nehmen soll.

Am Sonntagmorgen – der Mann hatte eine sehr schlechte Nacht hinter sich – rief die Frau erneut das Notfalldienstzentrum an und bestellte einen weiteren Hausbesuch: Ihrem Mann ginge es gar nicht besser, das Fieber sei zunächst um 1° runter gegangen, jetzt sei es wieder genau so hoch. Ein mürrisch dreinblickender, vielleicht auch etwas übernächtiger Notfallarzt kam und sagte gleich im Treppenhaus zur Frau: „Ich kenne bereits den Fall von meiner Kollegin her. In der Rettungszentrale spricht man schon von Ihren Anrufen. Das alles bei einem grippalen Infekt! Ihr Mann hat doch schon ein Antibiotikum bekommen! Da hätte man mindestens die ersten 12 Stunden abwarten sollen, bis es wirkt und man den Doktor ruft!“ Untersuchung. Eintragung in den Berichtsbogen des Notfallarztes: „Schwerer grippaler Infekt. Nervöse Ehefrau.“

Um 18 Uhr erneuter Anruf der Ehefrau in der Rettungszentrale: Jetzt seien fast schon 24 Stunden vorüber, und das Antibiotikum wirke noch immer nicht, das Fieber sei jetzt wieder weit über 39°. Es möge doch nochmals ein Arzt vorbeischauen. Um 19 Uhr kam ein älterer Kollege, ließ sich die bisherigen Maßnahmen erzählen, sah den schwerkranken Patienten und sagte nur resignierend: „Was soll ich da machen? Wir haben jetzt mehrere Influenza-Fälle in dieser Jahreszeit. Jetzt gehen Sie halt mal ins Krankenhaus. Die machen dort auch nichts anderes mit Ihnen.“ Der Patient wurde sogleich eingewiesen. Einen Tag später war er im Krankenhaus verstorben.

Der 40-jährige Kaufmann hatte sich offensichtlich eine Malaria bei einer Geschäftsreise nach Kenia zugezogen.

Stichwörter

  • Uncharakteristisches Fieber von 4 Ärzten als „grippaler Infekt“ oder „Influenza“ gedeutet
  • Tod durch Malaria

Kasuistik 2.1.6-2: Die „Grippe“, die aus dem Urwald kam

Eine 30-jährige Krankengymnastin kam im Spätherbst zu mir, um sich wegen einer „fieberhaften Grippe“ ein Medikament verschreiben zu lassen. Klagen über Kopf- und Gliederschmerzen. Temperaturen zwischen 38° und 39°. Nach einer Woche Verschlechterung des Zustandsbildes: Die Frau kann nicht mehr aufstehen, Leibschmerzen mit Zentrum im linken Oberbauch. Brechreiz, Fieber bis 41°, Subikterus. Therapieresistenz gegen alle meine Mittel. Erst zu diesem Zeitpunkt erfuhr ich von einer Safari-Reise quer durch Afrika (ohne Impfschutz, ohne sonstige Vorbeugung). Sofortige stationäre Einweisung. Diagnose: „Malaria tertiana“.

Stichwörter

  • Vermutete Grippe: hohes Fieber mit Kopf- und Gliederschmerzen
  • Später Leibschmerzen und Brechreiz
  • Malaria tertiana
Kommentar:

Vielleicht hätten sich beide Fälle rechtzeitiger klären lassen, wenn die Kollegen die Checkliste Nr. 1 „für uncharakteristische Fieberfälle und deren fieberfreie Varianten (Fieber-Programm)“ verwendet hätten (Übersicht B 1.1). Hier ist nämlich bereits bei der Patientenbefragung auch der Hinweis auf mögliche „Tropenreisen“ enthalten.

Besonders tragisch ist der Krankheitsfall des Kaufmanns: Ein gewissenhafter Arzt sollte sich niemals auf die Befunde (oder gar die „Diagnose“) des zuvor untersuchenden/behandelnden Arztes verlassen, wenn er wegen ausbleibender Genesung oder gar Verschlechterung notfallmäßig gerufen wird. Auch sollte er trotz der „nervösen Ehefrau“ geradezu demonstrativ die Ruhe und den Überblick bewahren. Die Festlegung auf die vermeintliche Diagnose „grippaler Infekt“ blockierte schließlich völlig die „frei schwebende Aufmerksamkeit“, auf die jeder Kranke Anspruch hat.

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