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10.8 Sexueller Missbrauch von Kindern

Zusatzinfo

Die Zunahme offen angesprochener oder aufgedeckter sexueller Kindesmisshandlungen Ende der 1980-er Jahre in den USA wurde mit einiger Verzögerung auch in Deutschland beobachtet. Die Definition von sexueller Misshandlung durch die amerikanische Akademie für Pädiatrie umfasst das Einbeziehen eines Kindes in sexuelle Aktivitäten, die es nicht versteht, auf die es aufgrund seines Entwicklungsstandes auch nicht vorbereitet ist, in die es daher nicht informiert einwilligen kann und welche die sozialen und gesetzlichen Tabus der Gesellschaft verletzen.


Akuter oder chronischer Missbrauch?

In der kinderärztlichen Praxis werden ganz überwiegend Fälle von von chronischem sexuellen Missbrauch vorgestellt. Nur in 1 % aller Kinder in der Praxis mit Missbrauchsanamnese besteht der Verdacht auf akuten Missbrauch. Nur in diesen Fällen von akutem Missbrauch ist die sofortige Untersuchung angezeigt. Die Spurensicherung ist bei Kindern nur innerhalb von 24 Stunden forensisch sicher. Hingegen ist bei chronischem Missbrauch keine Eile geboten, auch wenn der Impuls sofort handeln zu müssen, nachvollziehbar ist. Die Vorbereitung des Kindes durch eine Bezugsperson ist jedoch unabdingbare Voraussetzung. Auch  unklare Befunde sollten dokumentiert werden.


Unspezifische lokale Symptome/Befunde

Völlig unspezifisch und lediglich im Zusammenhang mit weiteren Symptomen oder anamnestischen Aussagen sind:

- analer Dilationsreflex
- "klaffender" Introitus vaginae
- Hymenalbefunde aller Art 
- genitale Blutungen bei kleinen Mädchen
- Rötungen der Vulva und Fluor

Unspezifische psychische Signal

Die sog. "verdeckten Hilferufe" sind unspezifische Signale, die allgemein Indikator für psychische Belastungen verschiedenster Ursachen sein können:
- Schluckbeschwerden
- Kopf-und Bauchschmerzen
- Schlaf-und Essstörungen
- Bettnässen
- Konzentrationsmangel, Schulversagen
- Daumenlutschen
- Aggressivität

(Quelle: M. Heinz 2015)


Dokumentation und Untersuchung

Ein umfangreiches und empfehlenswertes Informations- und Dokumentationsprofil für Fälle von häuslicher und sexueller Gewalt und Misshandlung findet sich über (Stand: Dez. 2007):
www.frauennotruf-frankfurt.de


Selbstbeschädigungen

Prävalenz zwischen 0,6 und 0,75 %. Häufigste Ursachen: Erwecken von Aufmerksamkeit und Zuwendung, Ausweichen vor belastenden Situationen sowie psychische Erkrankungen. Selten: materielle Motive, z. B. im Rahmen von Betrugshandlungen (Keil u. Sinicina 2011).


Fallbeispiel

Kasuistik 10.8-1: „Der Hund hat mein Kind gebissen“

Der gewaltsame Tod der kleinen Anna (9) aus Bad Honnef im Jahr 2010 hat die Öffentlichkeit tief erschüttert. Anna soll laut Anklage von der Pflegemutter in der Badewanne untergetaucht worden sein, bis sie starb. Im Fokus standen auch zwei Ärztinnen, die Atteste ausgestellt hatten, wonach Anna unter Essstörungen, einer Autoaggression und einer Wasserphobie litt. Die Atteste wurden offenbar zum Teil auf Zuruf der Pflegemutter ausgestellt.

Stichwörter: unkritische und Gefälligkeitsatteste – typische Verletzungsmuster und mögliche Schutzbehauptungen der Erziehungsberechtigten – vorsichtiges Ansprechen der Problematik – Kommunikationskultur von Kindern aus Risikogruppen

Kommentar:

Als Menschen sind wir gewohnt, in den alltäglich üblichen Bahnen und Routinen zu denken. Das, was wir nicht gut kennen, das sehen wir auch nicht. Wenn man die Symptome von Kindesmisshandlung kennt, kann man auch in eine andere Richtung denken.

Knie, Schienbeine, Ellenbogen, Nase oder Kinn sind typische Stellen für in der Regel ganz normale Verletzungen im kindlichen Alltag. Bestimmte Verletzungen am Schädel („Hutkrempenregel“) (vgl. Mader 7. Auflage nnn), Verletzungen in den Armbeugen, an den Oberschenkeln und ihren Innenseiten oder im Bauchraum sollten immer Anlass für Nachfragen sein. Man muss auch wissen, womit Kinder geschlagen werden, um daraus resultierende Verletzungsmuster erkennen zu können. Misshandelte Kinder werden in der Regel erst etwa ein oder zwei Tage nach dem Gewaltereignis vorgestellt. Wenn nach einem solchen Zeitraum die Erklärungen der Eltern dann auch nicht zu den Verletzungsmerkmalen passen, sollte der Arzt hellhörig werden. Oft legen sich die Eltern dann eine völlig unplausible Ausrede zurecht, z. B. dass der Nachbarshund das Kind in den Oberschenkel gebissen hat. Der Arzt sollte sich vorsichtig gegenüber den Eltern äußern, etwa: „Ich weiß nicht, wie die Verletzung zustande gekommen ist, aber meine Sorge ist, dass dieses Kind geschlagen wird.“ Einer solchen Aussage werden Eltern sich nicht so schnell verschließen, als wenn der Arzt sagt: „Ich habe den Verdacht, Sie schlagen Ihr Kind!

Kinder nehmen die Kommunikationskultur von gewalttätigen Familien intuitiv auf und spüren: Das, was in der Familie passiert, darf niemand erfahren. Häufig sagen Kinder daher von sich aus die Unwahrheit, um ihre Familie zu beschützen. Natürlich haben Kinder auch Angst, dass ihr Papa sie wieder „grün und blau schlägt“ oder Mama „ganz, ganz traurig“ ist.

Der Arzt kann sich zunächst mit anderen Kollegen austauschen oder Kind und Eltern an eine Kinderschutzambulanz überweisen. Bei massiven Verletzungen sollte das Kind zur gerichtsfesten Dokumentation der Verletzungen in die Rechtsmedizin überwiesen werden.

(Quelle: red. bearb. nach einem Interview mit Dr. E. Motzkau, Leiter KinderschutzAmbulanz am Ev. Khs Düsseldorf. Rhein. Ärztebl. 6/2011)

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