Mader : Fakten - Fälle - Fotos®
Onlineinhalte zum Buch

Zurück zum Inhaltsverzeichnis

12.2.6 Suizidales Verhalten

Zusatzinfo

Wissenswertes

Die Suizidraten der letzten Jahre sind in Deutschland wie in ganz Europa rückläufig (Deutschland: von ca. 14.000 im Jahr 1990 auf < 11.000 im Jahr 2004). Allerdings kommen auf jeden der 11.000 Suizide 10-20 Suizidversuche, so dass die Zahl suizidaler Handlungen auf etwa 150.000/Jahr geschätzt werden kann. Es ist also davon auszugehen, dass jedes Jahr ca. 100.000 Menschen wegen einer depressiven Erkrankung einen Suizid oder Suizidversuch begehen (Hegerl u. Pfeiffer-Gerschel 2007).


Sieben Ratschläge für den Hausarzt

  • Versuchen Sie, mit »auffälligen« Patienten in ein persönliches Gespräch zu kommen und den Kontakt aufrechtzuerhalten!
  • Sprechen Sie den Patienten auf eventuelle private Probleme an!
  • Achten Sie besonders auf plötzliche oder allmähliche Verhaltensveränderungen des Patienten, die auf ein präsuizidales Syndrom hindeuten könnten!
  • Ziehen Sie in Betracht, ob der Patient einer Risikogruppe angehört!
  • Nehmen Sie Selbstmordgedanken und -ankündigungen unbedingt ernst, auch wenn sie noch so unglaubwürdig erscheinen mögen!
  • Sedierende trizyklische Antidepressiva verhindern in der Einstellungsphase keinen Suizidversuch, d. h. alle Antidepressiva sind aufgrund ihrer Wirksamkeit immer mit sedierenden Substanzen zu kombinieren!
  • Ausreichende Dokumentation von Befund und Verlauf!

Tipps für Gespräche bei vermuteter Suizidgefahr 

http://www.allgemeinarzt-online.de/a/1564083


Häufige Fehler im Umgang mit Suizidpatienten (Mavrogiorgou et al. 2011)

  • Suizidankündigungen nicht ernst nehmen.
  • Psychiatrische Störung übersehen.
  • Stationäre Einweisung verzögern/unterlassen.
  • Bagatellisierungstendenz des Patienten fehldeuten.
  • Mangelnde Exploration der jetzigen und evtl. früheren Umstände, die zu Suizidalität geführt haben.
  • Missachtung der Fremdanamnese.
  • Zu rasche Suche nach positiven Veränderungsmöglichkeiten.
  • Überhöhte Ansprüche an die eigenen therapeutischen Fähigkeiten (Omnipotenzgefühl des Arztes).
  • Fehlbeurteilung der Ruhe nach dem Entschluss und vor dem geplanten Suizid.
  • Einseitige und unverbindliche Therapieempfehlungen.

Nürnberger Bündnis gegen Depression

Vier-Ebenen-Intervention:

  • Fortbildungspakete in Kooperation mit Hausärzten. Abgabe von Informationsvideos an Patienten.
  • Öffentlichkeitsarbeit: z. B. Großplakate, Kino-Spots, öffentliche Vorträge.
  • Fortbildungsveranstaltungen für Multiplikatoren (z. B. Lehrer, Pfarrer, Altenpflegekräfte).
  • Zahlreiche Angebote für Betroffene zur Stärkung der Selbsthilfe.

(Quelle: Hegerl u. Pfeiffer-Gerschel 2007)


Weitere Informationen:


Fallbeispiel

Kasuistik 12.2.6-1: "65-jährige verletzt sich nach Streit mit Ehemann am Handgelenk"

Eine 65-jährige Rentnerin schließt sich nach einem Streit mit ihrem Ehemann im Badezimmer ein und verübt einen Suizidversuch durch oberflächliche Schnittverletzungen am linken Handgelenk mit einer Nagelschere. Der Ehemann begleitet sie daraufhin zur Hausärztin, die nach einer Wundversorgung die Vorstellung in einer gerontopsychiatrischen Fachklinik einleitet. Die Patientin erklärt sich dort mit einer freiwilligen stationären Aufnahme einverstanden. Zum Aufnahmezeitpunkt ist sie affektiv sichtlich erregt, weint phasenweise, ist formalgedanklich geordnet, inhaltlich auf familiäre Konflikte fokussiert. Es ergeben sich keine Hinweise für ein Wahnerleben. Sie distanziert sich von weiteren suizidalen Impulsen und erscheint absprachefähig. 

Der Suizidversuch stellt sich retrospektiv als Verzweiflungstat im Sinne einer dysfunktionalen Problemlösestrategie dar, eine echte Selbsttötungsabsicht wird nicht erkennbar. In den psychotherapeutischen Einzelgesprächen kristallisiert sich ein langjähriger Partnerschaftskonflikt heraus. Bereits vor 34 Jahren habe die Patientin einen Suizidversuch (Schlafmittelintoxikation) verübt, der aber zu keiner medizinischen Intervention geführt habe. Der Ehemann habe ein Alkoholproblem und neige zu aggressiven Ausbrüchen. Seitdem er in Rente und den ganzen Tag zu Hause sei, trinke er deutlich mehr. Versuche, ihn vom Trinken abzuhalten, würden im Streit enden. Die stationäre Krisenintervention wird nach zwölf Tagen beendet, die Patientin wird anschließend für 4 Wochen in einer gerontopsychiatrischen Tagesklinik weiterbehandelt. Hier erfolgen gemeinsame Beratungen mit dem Ehemann und die Erarbeitung von Interventionsstrategien. Es gelingt, die familiären Konflikte sachlich zu thematisieren. Der Ehemann zeigt Einsicht in seine Alkoholgebrauchsstörung und nimmt eigenständig Kontakt zu einer Beratungsstelle auf. Die Patientin erfährt Unterstützung in den Gruppengesprächen, realisiert ihre häusliche Isolation und zeigt Bereitschaft, sich regelmäßig in einer Seniorenbegegnungsstätte einem Gesprächskreis anzuschließen.


Stichwort :
Verzweiflungstat im Sinn einer dysfunktionalen Problemlösestrategie

Der Psychiater Prof.Dr.med. Supprian und Florence Hellen beschreiben in der Zeitschrift Der Allgemeinarzt, wie der Hausarzt bei Suizidalität im Alter helfen kann.
http://www.allgemeinarzt-online.de/a/1768834
 

Kasuistik 12.2.6-2: "Das Leben ist so eine Qual für mich, dass ich nur noch sterben kann"

Die beiden Allgemeinärzte Dres.med. Thomas (Psychotherapie) und Fritz Meyer beschreiben den Fall einer 56-jährigen Patientin aus ihrer Praxis in der Zeitschrift Der Allgemeinarzt (2012).
http://www.allgemeinarzt-online.de/a/suizidalit%C3%A4t-das-leben-ist-so-eine-qual-f%C3%BCr-mich-dass-ich-nur-noch-sterben-will-1562604

Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Copyright 2014-2024 • Prof. Dr. med. Frank H. Mader