Mader : Fakten - Fälle - Fotos®
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12.5.2 Verwirrtheit

Zusatzinfo

Beachte auch die Ausführungen zu "Freiheitsentziehende Maßnahmen" in "Mader u.Riedl: Allgemeinmedizin und Praxis" und "Mader: Fakten - Fälle - Fotos" in Kap. 15.8.9!

 

Delir

In einer CME-Übersichtsarbeit in der Zeitschrift Der Allgemeinarzt (2017) befasst sich der Psychiater Prof. Dr.med. Torsten Kratz mit den Symptomen und dem Ursachen sowie mit der Therapie des Delirs.
http://www.allgemeinarzt-online.de/a/symptome-ursachen-therapie-1804233


Tabelle. ICD-10-Kriterien des Delirs, nicht durch Alkohol oder andere psychotrope Substanzen bedingt (F05.-) (Krauseneck et al. 2006)

Störungen des Bewusstseins

Quantitative Änderung der Bewusstseinshelligkeit (Koma, Dämmerzustand), qualitative Änderung des Bewusstseins (Einengung des Bewusstseins im Affekt)

Störung kognitiver Funktionen

Beeinträchtigung des Kurzzeitgedächtnisses, Wahrnehmungsstörungen (Illusionen, Halluzinationen), Störung des formalen Denkens (Denkverlangsamung und –hemmung, umständliches oder eingeengtes Denken, Perseverationen, Grübeln, Gedankenabreissen, Neologismen), beeinträchtigte Fähigkeit zur Objektbenennung (Dysnomie), beeinträchtigte Fähigkeit zu schreiben (Dyngraphie), inhaltsarme und zerfahrene Sprache, örtliche und zeitliche Desorientiertheit, Fehlinterpretationen, Sinnestäuschungen (Illusionen, visuelle, akustische oder sensible Halluzinationen), Suggestibilität

Störung des Schlaf-Wach-Rhythmus

Fluktuationen im Tagesverlauf mit nächtlicher Verschlechterung der Symptomatik, Umkehr des Schlaf-Wach-Rhythmus, Schlaflosigkeit, unangenehmes Traumerleben (Albträume)

Störung der Psychomotorik

Hyper- oder hypoaktive Zustände bis hin zum Stupor, vermehrte Schreckhaftigkeit, verlängertes Reaktionsvermögen

Affektive Störungen

Angststörungen, depressive Symptome, Reizbarkeit, Euphorie


Tabelle. Mögliche Ursachen des Delirs (mod. Schuchardt 2003)

Intoxikationen

Alkohol, Drogen, Schwermetalle, E605

Medikamentennebenwirkung

am häufigsten: Polypharmazie! Ferner beispielsweise: Analgetica (Morphin), Anticholinergika (Scopolaminoide, Atropin, Biperiden, Cimetidin, Ranitidin), Antibiotika (Gyrasehemmer), Benzodiazepine, trizyklische Antidepressiva, Neuroleptika (Promethazin, Lithium), Antiepileptika (Carbamazepin), Antihistaminika (Diphenhydramin), Antiparkinsonika (L-Dopa, Biperiden, Selegilin, Amantadin), Digitoxin, Glukokortikoide, Sedativa; ferner Medikamente, die zu Wasserretention und Hyponatriämie führen können (z. B. SSRI, Thiazid-Diuretika, NSAR)

Entzugssyndrome

Alkohol, Drogen- und Medikamentenentzug

Primäre Hirnerkrankungen

Virale und bakterielle Meningoenzephalitiden, ischämischer Schlaganfall, intrakranielle Blutungen, hydrozephale Erweiterungen der inneren Liquorräume, Sinusvenenthrombose, intrakranielle Tumoren, Epilepsien

Sekundäre Hirnschädigungen

Störungen des Wasser- und Elektrolythaushaltes (Hyponatriämie, Exsikkose), metabolische Erkrankungen (Hypo- oder Hyperthyreose, Hypo- oder Hyperglykämie, Urämie)


Freiheitsentziehende Maßnahmen

Dazu wird ausführlich auf Kap.15.1.6 "Freiheitsentziehende Maßnahmen" in Mader: Fakten - Fälle - Fotos verwiesen.
http://www.fakten-faelle-fotos.de/index.php?content=2&ivz_id=534&anker_nr=351


 


Fallbeispiel

Fall 12.5.2-1: Der Ruf des toten Sohnes

Anruf aus dem Altenheim um 0:20 Uhr: „Frau S., 72 Jahre, ein Neuzugang in der Kurzzeitpflege vor zwei Tagen, läuft seit drei Stunden aufgeregt auf dem Gang umher, redet wirr durcheinander und lässt sich durch nichts beruhigen. Sie weiß gar nicht, wo sie ist. Bitte kommen Sie vorbei!“

Sofort nach der Begrüßung erzählt mir die Patientin hastig in teilweise kaum verständlichen Sätzen: „Ich will heim, mein Sohn braucht mich.“ Sie ist schweißgebadet. Bei der Fremdanamnese erfahre ich, dass sie bei der Tochter lebt, die sie wegen eines plötzlichen Krankenhausaufenthaltes zur Kurzzeitpflege gebracht hat. Der Sohn ist schon seit zehn Jahren verstorben.

Fall 12.5.2-2: Der vergiftete Hund

Anruf von der Tochter eines 68-Jährigen:

„Der Vater redet seit heute Morgen dummes Zeug, rast durchs ganze Haus und sucht nach seinem Hund. Der ist aber im letzten Jahr eingeschläfert worden. Jetzt schreit er die ganze Zeit im Haus herum ‚Du hast meinen Hund vergiftet!‘. Er schwitzt und schaut so komisch. Bitte kommen Sie vorbei!“

Fall 12.5.2-3: Der Mann im Zimmer

Anruf der Tochter eines 75-Jährigen um 23 Uhr im Sonntagsdienst:

„Bitte kommen Sie sofort vorbei, ich weiß mir nicht mehr zu helfen! Mein Vater sitzt im Bett, weint und lässt sich gar nicht beruhigen. Vorgestern hat er das auch schon gehabt, am Tag war es dann aber immer wieder besser. Wenn ich mit ihm rede, antwortet er kaum und wenn, dann ganz anders als sonst: langsam und leise. Er zittert richtig. Er sagt ‚Da kommt ein Mann ins Zimmer.‘ Das stimmt aber gar nicht.“

Fall 12.5.2-4: Fieber und Exsikkose

Anruf der Nachtschwester im Pflegeheim:

„Frau N. (73 Jahre) ist ganz durcheinander und hat 39° C Fieber. Beim Abendessen war sie noch völlig normal. Bitte kommen Sie sofort vorbei!“Befund: Völlig durchgeschwitzte Patientin mit 39° C Fieber. Zeichen einer Exsikkose. Cor, Pulmo, Abdomen kein auffälliger Befund. Urinstix: Nitrit +++, Leukos

Kommentar:

Die erste der vier Symptomebenen ist die globale kognitive Störung. Hinweise geben Schilderungen von Angehörigen wie „sie redet wirr durcheinander“ (Fall 1), „er redet dummes Zeug“ (Fall 2) oder „er redet ganz anders wie sonst“ (Fall 3). Die zweite Ebene umfasst psychomotorische Störungen wie z. B. „läuft auf dem Gang umher“ (Fall 1), „rast durchs ganze Haus“ (Fall 2) oder „sitzt im Bett und weint“ (Fall 3). Die ersten beiden Patienten sind hyperaktiv und hypermotorisch, der dritte Patient ist dagegen hypomotorisch. Beide Ex­treme kommen auf dieser Ebene vor, so Landendörfer. Fast immer treten beim akuten Verwirrtheitszustand auch vegetative Symptome auf (dritte Ebene), die erkennbar sind durch Mitteilungen wie „sie ist schweißgebadet“ (Fall 1), „er schwitzt und schaut so komisch“ (Fall 2), „er zittert richtig“ (Fall 3). Auf der vierten Ebene spielen sich Wahnsymptome und Halluzinationen ab: Äußerungen seitens des Patienten wie „mein Sohn braucht mich“ (Fall 1), „du hast meinen Hund vergiftet“ (Fall 2), „da kommt immer ein Mann ins Zimmer“ (Fall 3) sind typisch. Szenen aus der Vergangenheit tauchen plötzlich auf, Anschuldigungen entbehren jeglicher Realität.

Zu den typischen Auslösern für ein Delir zählt auch die akute Harnwegsinfektion (Fall 4). Mit solchen Anrufen ist gerade in der Sommerzeit zu rechnen.

Entscheidend für ein Delir ist, dass all diese Störungen akut einsetzen.

(Quelle: Peter Landendörfer (2010) Die vier Ebenen des Delirs. Der Allgemeinarzt 2:12-14

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