Mader : Fakten - Fälle - Fotos®
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15.2.1 Hausärztliche Funktionen

Zusatzinfo

Wissenswertes

Es war das Verdienst des Allgemeinarztes Hamm in den 1980-er Jahren, die wesentlichen hausärztlichen Funktionen formuliert zu haben. Diese wurden in jüngster Zeit fortgeschrieben und sinngemäß in den Text der Weiterbildungsordnung für Allgemeinärzte aufgenommen.

 

Gesundheitsförderung und Gesundheitsbildung

In einer „Ära verblüffender heiltechnischer Reparaturkunststücke“ (Nager 1977) konzentriert sich das komplementäre Heilkonzept der Gesundheitsförderung auf die Erzeugung, Bewahrung und Wiederherstellung der Gesundheit. Hier wird Gesundheit als dynamischer Prozess, als kreative Leistung, als Lebenskunst verstanden. Diese neu erwachende Sensibilisierung für aktive Erzeugung von Gesundheit schlägt sich bereits in der Ottawa-Charta der WHO von 1986 (Programm zur Gesundheitsförderung [Health Promotion]) nieder:

„Gesundheitsförderung zielt auf einen Prozess, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen. Um ein umfassendes körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden zu erlangen, ist es notwendig, dass sowohl Einzelne, als auch Gruppen ihre Bedürfnisse befriedigen, ihre Wünsche und Hoffnungen wahrnehmen und verwirklichen sowie ihre Umwelt meistern bzw. verändern können. In diesem Sinne ist die Gesundheit als ein wesentlicher Bestandteil des alltäglichen Lebens zu verstehen und nicht nur ein vorrangiges Lebensziel.“

Gesundheitsförderung als ein sozial-ökologisches Gesundheits- und Präventionsmodell betrachtet die Gesundheit nicht als Ziel, sondern als Mittel, um Individuen zu befähigen, individuelles und gesellschaftliches Leben positiv zu gestalten. Präventive Maßnahmen werden somit nicht durch das professionelle System verordnet. Sie zielen auf die aktive und selbstverantwortliche Beteiligung der Laien an der Herstellung gesundheitsfördernder Bedingungen und auf den Dialog und die Interaktion zwischen Laien und Professionellen. Mit dieser Zielsetzung zeigt die Gesundheitsförderung große Nähe zum Empowerment-Ansatz, der aus der amerikanischen Gemeindepsychologie stammt.

 

Definition Empowerment

Stärkung von Kompetenzen, Eigenverantwortlichkeit und Selbsthilfefähigkeit von Personen oder Gruppen.


Berufsbild des Hausarztes im Spiegel der deutschen Ärzteschaft

In einem umfangreichen Papier befasste sich der 115. Nürnberger Ärztetag 2012 mit der Rolle des Hausarztes in der gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung (vgl. FFF Kap. D18). Darin werden u. a.

  • Berufsbild des Hausarztes,
  • Kompetenzen der hausärztlichen Versorgung,
  • Arbeitsteilung und Kooperation,
  • Forschungsprofil der Allgemeinmedizin sowie
  • Perspektiven des Hausarztberufes

beschrieben.

Im gesundheitspolitischen Programm der deutschen Ärzteschaft von 1994 wird betont, dass es der Allgemeinarzt ist, welcher „in erster Linie auf die Funktion des Hausarztes vorbereitet ist; er kann in umfassender Weise die gesundheitliche Betreuung des Einzelnen und der Familie übernehmen und eine unkoordinierte gleichzeitige Inanspruchnahme mehrerer Ärzte vermeiden, die nicht nur medizinisch oft sinnlos, sondern häufig auch unwirtschaftlich ist“. Dem stimmen auch die Krankenkassen zu: „Mit Sicherheit ist es die Weiterbildung zum Facharzt für Allgemeinmedizin, die am ehesten für die Wahrnehmung hausärztlicher Versorgungsfunktionen qualifiziert.


Begriff Hausarzt

In Deutschland ist der Begriff „Hausarzt“ nicht geschützt, das Wort stellt eine sprachliche Usance dar. Erst die berufs- und gesundheitspolitische Diskussion und Auseinandersetzung der Gegenwart füllt diesen Begriff immer stärker formal und inhaltlich aus, etwa die deutsche Ärzteschaft in ihrem Gesundheitspolitischen Programm oder der Gesetzgeber im Sozialgesetzbuch V (SGB V):

„Die hausärztliche Versorgung hat insbesondere folgende Leistungen sicherzustellen:

  • die allgemeine und fortgesetzte ärztliche Betreuung eines Patienten in Diagnostik und Therapie bei Kenntnis seines häuslichen und familiären Umfeldes einschließlich der dazu erforderlichen Präsenz;
  • die Hausbesuchstätigkeit;
  • die Notfallversorgung;
  • die Veranlassung diagnostischer, therapeutischer und pflegerischer Maßnahmen sowie ihre Koordination;
  • die Dokumentation, insbesondere Zusammenführung, Bewertung und Aufbewahrung der wesentlichen Behandlungsdaten, Befunde und Berichte aus dem ambulanten und stationären Versorgung;
  • die Einleitung oder Durchführung präventiver und rehabilitativer Maßnahmen;
  • die Integration nichtärztlicher Hilfen und flankierender Dienste in den Behandlungsmaßnahmen“ (Köln 1994).

Ähnlich äußert sich der Gesetzgeber im Gesundheitsstrukturgesetz (GSG). Das SGB V legte erstmals eine Gliederung der vertragsärztlichen Versorgung in eine

  • hausärztliche und
  • fachärztliche

Versorgung fest (§ 73 Abs. 1 SGB V).


Hausärztliche vs. klinische Versorgung

Auf wesentliche Unterschiede zwischen Klinik und Praxis, vor allem auf die Besonderheiten der hausärztlichen Versorgung weist der Psychosomatiker W. Wesiack hin:

  1. Der Erstkontakt zwischen Arzt und Patient findet in der Regel in der Praxis des Arztes in der allen Leuten zugänglichen Sprechstunde statt, ausnahmsweise auch außerhalb der Sprechstunde und in der Wohnung des Patienten.
  2. Die Anzahl der zu untersuchenden und zu behandelnden Patienten kann von vornherein nicht oder nur unzulänglich begrenzt werden, wodurch ein enormer Zeitdruck entsteht.
  3. Die Patienten kommen noch weitgehend unausgelesen zum Arzt der ersten Linie, wodurch sich sein Tätigkeitsfeld enorm erweitert.
  4. Er muß zunächst auf komplizierte technische Hilfsmittel sowie auf kollegialen und fachärztlichen Rat verzichten und hat trotzdem weitreichende Entscheidungen zu fällen.
  5. Dies zwingt ihn, das Wesentliche bzw. das Problem des Patienten rasch zu erkennen und sich darauf zu konzentrieren.
  6. Er steht dem Lebens- und Tätigkeitsbereich seiner Patienten in der Regel viel näher als der Kliniker und ist häufig von vornherein mit dem ganzen persönlichen Hintergrund des Patienten vertraut.
  7. Bei einer großen Anzahl seiner Patienten kann er eine Langzeitbeobachtung und Langzeitbetreuung betreiben.
  8. Dadurch entsteht eine sehr starke persönliche Beziehung und Bindung zwischen Arzt und Patient.
  9. Diagnostik und Therapeutik stehen bei ihm in noch viel engerem Zusammenhang als beim Spezialisten und Kliniker. Der diagnostisch-therapeutische Zirkel bildet bei ihm im Idealfall noch eine ungebrochene Einheit.
  10. Durch rechtzeitiges Eingreifen vermag er Chronifizierungen zu verhindern. Seine Bedeutung für die Prophylaxe, die Früherkennung und die Frühbehandlung von somatischen, psychosomatischen und neurotischen Erkrankungen ist enorm und noch keineswegs voll ausgeschöpft.

Primärärztliche Funktion
(einschl. Sieb- und Notfallfunktion)

Ärztliche Basisversorgung der ersten Linie (primary medical care) einschl. des Aussiebens gefährlicher Krankheitsverläufe – auch in ihren Vor- und Frühstadien – sowie der Notfallversorgung.

Rd. 90 % der unausgelesenen an den Allgemeinarzt herangetragenen Fälle versorgt dieser, ggf. in gezielter Zusammenarbeit mit dem Spezialisten, primär im eigenen Bereich. Primärärztliche Versorgung fokussiert also nicht auf die psychosomatischen, sozialpsychologischen oder sozialpädagogischen Aspekte hausärztlicher Tätigkeit, sondern umfasst die verschiedenen Funktionen in einem arbeitsteilig und nach Leistungsintensität gestuften System der gesundheitlichen Versorgung. Im Hinblick auf die Anzahl der betreuten Patienten, die Anzahl der Arzt-/Patienten-Kontakte, der Intensität der langfristigen Arzt-/Patienten-Beziehungen nimmt die primärärztliche Versorgung eine Schlüsselrolle für Management-Entscheidungen im Gesundheitswesen ein; dabei fallen vor allem auch veranlasste Leistungen (Medikamente, Lohnfortzahlung und Krankengeld, Überweisungen und Krankenhauseinweisungen) erheblich ins Gewicht (Färber 1994).

Seiner begrifflichen Bedeutung nach bezieht sich die primärärztliche Versorgung auf jene Leistungen im Gesundheitssystem, die für jene Patienten erbracht werden, die ambulant versorgt werden können. Aus der Perspektive des Versorgungssystems handelt es sich um die hausärztliche Versorgung oder um die Betreuung an der ersten ärztlichen Linie (R. N. Braun).

Haus- und familienärztliche Funktion

Die Behandlung, gesundheitliche Betreuung und Langzeitbeobachtung von Familien oder familienähnlichen Gruppen in mehreren Generationen im häuslichen Milieu in somatischer, psychischer und sozialer Hinsicht bei oftmals weitgehender Identität der Lebensbereiche von Patient und Arzt.

Koordinationsfunktion

Abstimmung aller Maßnahmen im diagnostisch-therapeutischen Prozess. Führung der Patienten im Versorgungssystem.

Gesundheitsbildungsfunktion

Die deutschen Ärztetage hatten bereits 1987 in Karlsruhe und 1988 in Frankfurt zur Prävention richtungsweisende Beschlüsse gefasst. Die Ärzte werden dazu aufgefordert, „sich verstärkt in die primäre Prävention einzuschalten, Aufgaben in der Gesundheitserziehung und Gesundheitsbildung zu übernehmen und als verantwortliche Partner in der gemeindenahen Prävention mitzuwirken“. Die „gesundheits- und sozialpolitischen Vorstellungen der deutschen Ärzteschaft“ heben für die Gesundheitsförderung insbesondere folgende Bereiche hervor:

  • Stärkung der Familie als Voraussetzung für eine gesunde Entwicklung der Kinder;
  • Gesundheitserziehung in der Schule;
  • Gesundheitsvorsorge am Arbeitsplatz;
  • Gesundheitsförderung in der Freizeit.

Der Hausarzt sollte es unterlassen, seine Patienten mit Verboten zu drangsalieren oder zu missionieren. Er wird seiner Gesundheitsbildungsfunktion am ehesten gerecht, wenn er sich in jedem einzelnen Fall einige grundsätzliche Überlegungen macht:

  • Ist eine präventive Intervention vertretbar?
  • Mit welchem Aufwand?
  • Um welche Minimalziele zu erreichen?
  • Genügen Ratschläge oder sind auch Medikamente vertretbar oder gar notwendig?
  • Was bringt das alles dem Patienten?
  • Und will er es überhaupt?

Fallbeispiel

Kasuistik 15.2.1-1: Magen-Darm-Beschwerden: "Drückt es hier?"

Anonymisierte Fakten aus einem Gutachtenauftrag einer ärztlichen Schlichtungsstelle für Haftpflichtfragen, zusammengestellt von Prof. Frank H. Mader

Montag, 20.08.2007
Herr P. (43 J) sucht, nachdem er am Sonntag, den 19.08., "Beschwerden im Magen-Darm-Bereich" hatte, die Montagssprechstunde seines langjährigen Hausarztes auf (zuletzt im Januar d. J. dort wg. "akuter Gastro-Enterokolitis"), wobei er über "Magen- und Darmbeschwerden sowie Völlegefühl, Krämpfe und geringfügigen Stuhl" klagte. Um diese Zeit gab es mehrere Fälle von Gastroenteritis in der Praxis. Dr. A. nahm eine "orientierende Abtastung im Oberbauch am mir gegenübersitzenden Patienten - verbunden mit der Frage: "Drückt es hier?" vor. Er stellte die Diagnose "Gastritis/Enteritis". Herr P. erhielt Gastronerton® Tropfen (= Metoclopramid), einen H2-Blocker für den Magen sowie Buscopan® i.m., Paspertin® i.v. Arbeitsruhe für 3 Tage.
Karteidokumentation des Dr. A.: "Übelkeit, Magenkrämpfe, Diarrhoen, Schwäche". Als "Dauerdiagnose" ist auf der Karteikarte vermerkt: "Kolon-Sigma-Divertikulose, Adipositas, Leberparenchymschaden". Herr P. wird für den nächsten Tag "zum Spritzen" wiederbestellt.

Dienstag, 21.08.2007
Herr P. kommt zum Spritzen. Eine Arzthelferin gibt Paspertin i.m. und Buscopan i.m. Zufällig begegnen sich Patient und Arzt auf dem Flur. "Herr P. macht keinen kranken Eindruck auf den Arzt".

Mittwoch, 22.08.2007
Herr P. ist nicht in der Sprechstunde erschienen ("weil am Mittwoch ohnedies die Ärzte geschlossen hätten").

Donnerstag, 23.08.2007
Herr P. fordert am Vormittag einen Hausbesuch an wg. "wesentlicher Verschlimmerung der Beschwerden, v. a. ist der Bauch erheblich aufgetrieben". Dr. A. verweist auf die volle Sprechstunde und möchte nachmittags kommen, alternativ soll der Patient selbst die Sprechstunde am Nachmittag aufsuchen. Herr P. kommt dann um 16.00 Uhr. Dem Arzt fällt das gelbe Hautkolorit auf. Urin: Urobilinogen +++, Keton +++, Ew +++. Bauch trommelförmig aufgetrieben, Abwehrspannung. Sofortige stationäre Einweisung mit der "Diagnose: Ikterus. Akutes Abdomen. V. a. Gallengangsverschluss. Tu.?"

Übung:

Überlegungen und Fragen:

Diskutieren und beantworten Sie bitte die nachfolgenden Fragen im Hinblick auf die Qualität der Ausübung der allgemeinärztlichen Funktion durch Dr. A. und nicht unter dem Aspekt einer gutachterlichen Stellungnahme.

  1. Welche Fragen hätten Sie selbst beim ersten Arzt-Patienten-Kontakt gestellt?
  2. Welche Untersuchungen hätten Sie am Montag, ggf. an den folgenden Tagen vorgenommen?
  3. Welche Befunde und welche Klassifizierung hätten Sie am Montag und ggf. an den anderen Tagen in Ihrer Karteikarte dokumentiert?
  4. Welche(n) mögliche(n) Abwendbar gefährlichen Verlauf/Verläufe (AGV) hätten Sie am Montag und ggf. an den anderen Tagen bedacht?
  5. Wie lange hätte man Ihrer Erfahrung nach am Montag bzw. an den anderen Tagen "abwartend offen" bleiben können?
  6. Wie beurteilen Sie die "geteilte Verantwortung" zwischen Arzt und Patient im vorliegenden Fall?
  7. Welche Therapie hätten Sie selbst wann eingeleitet?
  8. Wie beurteilen Sie die Notwendigkeit für eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung?
  9. Wie beurteilen Sie die Therapie des Kollegen an den einzelnen Tagen?

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