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15.2.2 Familienmedizin

Zusatzinfo

„Patients have families“
H. B. Richardson (1945)

Wissenswertes

Mit familiären Belangen konfrontiert ist der Hausarzt häufiger, als ihm oft selbst bewusst ist. So ergab beispielsweise die Erfassung und Auswertung von 164 Patienten-Arzt-Gesprächen, dass in 35 % der Kontakte 24 unterschiedliche Themen angesprochen und vertieft worden sind, die im näheren oder weiteren Sinn mit „Familie“ zu tun haben.

Die Hilfe einer ganzen Familie kann als Quelle medizinischer Versorgung den Hausarzt bei seinen Bemühungen um den Patienten unterstützen. Familien verfügen über ein Potenzial, gerade auch in Form traditioneller Werte, wie Liebe und Heim, die als wirksamstes Instrument für den Heilungsprozess eingesetzt werden können. Familienmedizin soll nach Schwartz (1983) langfristig subjektive Beeinträchtigungen oder objektive Funktionseinbußen, die über den physiologischen Alterungsprozess hinausgehen, verhindern.

 

Arbeitsdefinition Familienmedizin 

Die Familienmedizin ist integraler Bestandteil der Allgemeinmedizin; sie verfolgt einen ganzheitlichen Ansatz, der das Wissen um die familiäre Situation einbezieht, schreiben Dr. disc. pol. Vera Kalitzkus (Institut für Allgemeinmedizin und Familienmedizin, Düsseldorf) und Prof. Dr.med. Horst Christian Vollmar (Institut für Allgemeinmedizin, Jena) in ihrer DELPHI- Studie in der ZFA.
https://www.online-zfa.de/media/article/2016/05/92269FB8-7959-4A38-BE5B-513B11AD846F/92269FB879594A38BE5B513B11AD846F_kalitzkus_familienmedizin_1_original.pdf


Definition Familie

In einer sehr weiten Bedeutung kann das Wort Familie jene Gruppe von Menschen bezeichnen, die „miteinander verwandt, verheiratet oder verschwägert sind, gleichgültig ob sie zusammen oder getrennt leben, ob die einzelnen Mitglieder noch leben oder bereits verstorben sind“. Unabhängig von räumlicher oder zeitlicher Zusammengehörigkeit kann Familie als Folge von Generationen angesehen werden, die biologisch oder rechtlich miteinander verbunden sind (Bundesministerium für Jugend, Frauen, Familie und Gesundheit 1986). Der Terminus „Familie“ muss heute im weitesten Sinn aufgefasst werden: Familie ist, was sich als Familie betrachtet.

 

Lebenszyklus der Familie

Zu den Grundkenntnissen der Familie gehört das Wissen über deren Lebenszyklus. Die Familie ist immer ein dynamisches, nie ein statisches Gebilde, sie entsteht und vergeht. Ihr Lebenszyklus verläuft im Allgemeinen in 7 Stufen ab. In der Familie sind besonders die Übergangsbereiche von einer Stufe des Lebenszyklus zu einer anderen krisengefährdet. Vorbestimmte Übergänge sind Heirat, Geburt, Schulanfang der Kinder u. ä. Unerwartete Übergänge (Verlust eines Familienmitgliedes, des Einkommens etc.) können sich zu Schwach- oder Bruchstellen des Familiengefüges ausweiten (Hamm 1985). Eine „normale“ Familie zeichnet sich nach Milton H. Erickson dadurch aus, dass sie wichtige Lebenszyklen der Veränderung fließend durchläuft, während pathogene Familien (oder Paare) in dem einen oder anderen Zyklus stecken geblieben sind.


Familientherapie

Familienmedizin ist nicht zu verwechseln mit der Familienforschung und der Familientherapie, wie sie in den 50-er Jahren des 20. Jahrhunderts als Wissenschafts- und Praxisfelder entwickelt wurden und weltweit einen enormen Aufschwung genommen hatten. Dazu rechnen etwa die kulturvergleichende Familienforschung, Ehe- und Scheidungsberatung, Familienpsychosomatik, die Arbeit mit Unterschichtfamilien sowie soziale Netzwerke und vieles andere mehr.


Familiäres Gesundheitsrisiko

Derzeit lassen sich mindestens 45 relevante Erkrankungen mit einem familiären Hintergrund (u.a. familäres Auftreten von Mammakarzinom und Schizophrenie) identifizieren. Bei kumulierten Effekten liegen die Zahlen entsprechend höher (Pickering et al. 2012).


Familien chronisch kranker Kinder

In der Zeitschrift Der Allgemeinarzt (2017) berichten zwei Autorinnen darüber, wie wichtig es in Familien mit chronisch kranken und behinderten Kindern sei, "auch auf die Geschwister acht zu geben".
http://www.allgemeinarzt-online.de/a/auch-auf-die-geschwister-achtgeben-1807589


Fallbeispiel

Kasuistik 15.2.2-1: Die unverstandene Ehefrau „Die Kinder sollen es mal besser haben“

Die 46jährige Maria M. schüttet wieder einmal beim Hausarzt den ganzen Köcher ihrer Befindlichkeitsstörungen aus: „Das muss doch was anderes sein, das mit dem Bauch. Immer dieses Bauchspannen. Nachts ist es besonders schlimm. Ich glaube ich schleppe einen Stein mit mir. Das ist mal besser, auch mal schlechter. So eine Art Völlegefühl. Ich war schon bei der Frauenärztin, die sagt, es ist eine Blasenentzündung, aber das kann es nicht sein. Sind es die Nieren? Und wenn es immer besonders schlimm ist, dann nehme ich ein Buscopan, aber das hat überhaupt nicht geholfen.“ Arzt: Vielleicht wird das alles ein bisschen zu viel für Sie zu Hause. Der Mann ... was sagt denn der zu Ihren Beschwerden? „Ach der! Da könntest du sterben, da würde er sich umdrehen, die Schultern zucken und zu seinen Stammtischbrüdern gehen. Alles muss ich allein machen.“ Und die Kinder? Die sind doch jetzt schon größer. „Wenn ich nicht putzen gehen würde, dann würden sie dumm dastehen vor ihren Freunden. Der Große geht ja jetzt ins Gymnasium. Und was der da alles braucht. Jedenfalls sollen’s die Kinder mal besser haben!

Stichwörter:

  • Völlegefühl und Blasenentzündung
  • der lieblose Ehemann
  • die Kinder in der Beschützerrolle
  • die „Gesamtdiagnose“ des Hausarztes
Kommentar:

Aus familienmedizinischer Sicht wird folgendes deutlich:

  1. Frau M. ist wieder einmal ratlos mit ihren Bauchschmerzen, besonders nachts (wo sie sich vielleicht besonders Verständnis oder Zuwendung durch ihren Mann erwartet hätte). Konsequenterweise war sie auch schon bei der Gynäkologin, die ihr aber eine unbefriedigende organische Erklärung angeboten hatte. Auch die medikamentöse Selbstmaßnahme war erfolglos.
  2. Möglicherweise aus dem Unterbewusstsein heraus sucht sie jetzt den Hausarzt auf, dem sie die Kenntnis ihrer gesamten Situation einschließlich der Familie (sog. „Gesamtdiagnose“) zutraut. Sie sucht hier sicherlich Verständnis und Hilfe, die sie von ihrer Familie nicht bekommt. Der Hausarzt geht erstaunlich rasch und gezielt auf die einzelnen Familienmitglieder (Ehemann, Kinder) ein. Dies ist ihm möglich aufgrund der langjährigen guten Kenntnis der Familie („erlebte Anamnese“).
  3. Der Hausarzt wird also von der Familie indirekt einbezogen, sich um die Frau zu kümmern, was die anderen Familienmitglieder aus bestimmten Gründen offensichtlich ablehnen.
  4. Durch den Besuch beim Hausarzt erhofft sich die Frau zunächst wohl neue, wirksamere Medikamente, die ihre missliche körperliche (und auch familiäre?) Lage erträglicher machen. Eine Änderung ihrer Haltung ihrer Familie gegenüber braucht sie dabei nicht in Betracht zu ziehen.
  5. Der Ehemann, der hier indirekt oder auch direkt von der Frau beschuldigt wird, nämlich kein Interesse an ihr zu haben, wird hier in die Rolle des Unterdrückers geschoben. Häufig bringt ein Ehepartner den Arzt dazu, sich gegen den anderen zu verbünden, um dem Berater das mitteilen zu lassen, wozu man selbst zu viel Angst hat.
  6. Daraus ist zu vermuten, dass die Frau ihrem Mann vermitteln will: „Du kümmerst Dich nicht um mich. Ich leide so darunter, dass ich ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen muss. Wenn Du Schuldgefühle bekommst, geschieht Dir das recht.“ Somit wird eine aggressive Auseinandersetzung, die auch zur Scheidung führen kann, umgangen und durch ihr Leiden ersetzt. Die Familie bleibt zusammen und alles beim alten. Die Frau bleibt in einer unentwickelten nicht-verantwortlichen Position, die eine psychische Weiterentwicklung verhindert.
  7. Der Ehemann spürt natürlich diese Botschaft und setzt sich von dieser unterwürfigen und fordernden Haltung noch mehr ab, vielleicht durch autoritäres und auch intellektuelles Verhalten. Seine Frau als krank zu sehen hilft ihm jedoch, sich einerseits zurückzuziehen und den Arzt als Fachmann „machen zu lassen“ und gleichzeitig aus Gründen wie „ich werde meine kranke Frau nie verlassen“ den Status Quo aufrecht zu erhalten. Er vermeidet damit direkt eine Konfrontation mit seiner Frau und mit seinen wirklichen Gefühlen. Ein Gespräch mit dem Ehemann würde darüber Aufschluss geben.
  8. Die Bemerkung der Frau über die Kinder könnte andeuten, dass die Kinder zu ihrer Unterstützung herangezogen werden, vielleicht auch durch vermehrte Zuwendungen und Vergünstigungen. Für die Kinder kann das bedeuten: „Wir müssen unsere arme Mutter gegen den Vater unterstützen. Tun wir das nicht, verlieren wir unsere Mutter (und auch damit die Zuwendungen).“ Die Kinder werden also aus ihrer Kinderrolle in die Beschützerrolle gedrängt. Das heißt: Sie fühlen sich für die Mutter verantwortlich. Die allmähliche Loslösung der Kinder wird erschwert. Indem sie ihre kindlichen Entwicklungsphasen (z.B. Bedürfnis nach Abhängigkeit und Unterstützung) überspringen. Indirekt könnten sich diese Kinder dafür rächen, z.B. durch dominierendes Verhalten.

Kasuistik 15.2.2-2: Die Akne und die Arbeitslosigkeit des Mannes

45-jährige Frau, seit 5 Jahren regelmäßig in unserer hausärztlichen Behandlung, zuletzt vor 6 Monaten wegen „Reizblase“. Heute hat Frau A.T. wieder ihren Urin mitgebracht. „Sie müssen da was tun!“ Abgesehen von 2-3 Leukozyten und einigen Bakterien im Sediment – wiederum ein negativer Urinbefund. Offensichtlich will die Patientin irgendeine Problematik delegieren. Ich werde hellhörig („Da müssen sie was tun!“) und frage zurück: Was bedrückt sie? Da schießt die Frau los: „Vielleicht ist es der Arbeitsplatz? Sie wissen, dass meine Bank fusioniert, da werden mit Sicherheit Arbeitsplätze freigesetzt.“ Jetzt fällt mir das pustulöse Gesicht auf mit deutlicher Rötung. Vorsichtig versuche ich mich an das Problem heranzufragen: Da haben Sie sicher jetzt eine große Belastung auf dem Herzen. Und die kann sich durchaus auch auf dem Gesicht ausdrücken. Sie wissen ja, das Gesicht ist der Spiegel der Seele, sagt man. „Ja, ja, das ist auch, was mich auch noch so belastet. Ich trau mich schon gar nicht mehr unter die Leute. Am Kinn habe ich schon zu drücken versucht, aber da kommt gar nichts raus aus den Pusteln. Seit einem viertel Jahr habe ich das. Ich habe schon verschiedene Salben probiert. Jetzt ist es aber vor allem die Nervosität.“ Schlafstörungen? „Und wie, die ganze Nacht liege ich wach.“ Was sagt da Ihr Mann? Sie hatten mir doch mal gesagt, dass Sie verheiratet sind. „Der ist selbst mit sich beschäftigt, der ist doch berufsunfähig!“ Das wusste ich nicht. Wie lange schon? „Seit 2 ½ Jahren. Er bezieht Berufsunfähigkeitsrente wegen Osteoporose. Und das erst mit 48 Jahren. Da denkt man schon oft an die Zukunft. Haben Sie denn was, was rasch wirkt? In acht Tagen fahren wir für eine Woche in die Berge.“ Und wie ist der Stuhl? „Tagelang verstopft. In meinen Därmen kracht und rumort es. Die Winde stinken fürchterlich.“ Haben Sie schon einmal Autogenes Training versucht? Kennen Sie das? „Das hilft nichts bei mir, das hatte ich schon probiert, wie ich vor 18 Jahren wegen Anorexie in einer psychosomatischen Klinik war, das hilft nichts, wenn ich nervös bin. Und vor 4 Jahren war ich auch in der Kur, damals hat es auch nichts geholfen.

Stichwörter:

  • Reizblasensymptome
  • Akne pustulosa
  • Arbeitsplatzproblematik der Frau
  • Schlafstörungen
  • Reizdarmsymptome
Kommentar:

Da war mir manches neu: Obwohl ich Frau T. als Hausarzt gut zu kennen glaubte, erfuhr ich erst heute von der schweren Krankheit ihres Mannes (der nicht in unserer Behandlung steht) und seiner Berufsunfähigkeit. Auch war mir völlig unbekannt, dass die Patientin als Jugendliche an Anorexie litt und stationär behandelt wurde. Und schließlich hatte ich nicht mitbekommen, dass die Patientin vor 4 Jahren durch „ihren HNO-Arzt“ wegen einer „Allergie“ in die Kur geschickt wurde.

Familienmedizinische Bezüge können in der Patienten-Hausarzt-Begegnung auftauchen – und vielleicht einen Ansatzpunkt für weiterführende vertiefende Gespräche bilden, auch wenn der Hausarzt nur einen Teil der Familie zu seiner Klientel zählt. Gerade aus der (oft langjährigen) Vertrautheit mit dem Betreffenden heraus und aus seinem Anspruch, für den ganzen Menschen mit allen seinen Problemen in allen seinen Bezügen erster ärztlicher Ansprechpartner zu sein, sitzen oftmals unwillkürlich die übrigen Familienmitglieder unsichtbar im Sprechzimmer, auch wenn sie noch nie diesen Arzt aufgesucht hatten.

Übung:

Überlegungen und Fragen

  1. Welchen Eindruck macht die Patientin auf Sie? Wie würden Sie ihre Person schildern?
  2. Welchen Eindruck macht auf Sie die Gesprächsführung des Hausarztes? Würden Sie das Gespräch anders führen?
  3. Sehen Sie familienmedizinische Ansatzpunkte in diesem Gespräch?
  4. Lassen sich möglicherweise die vielfältigen Beschwerden der Patientin auf eine einzige Diagnose („Gesamtdiagnose“) zusammenführen?
  5. Welche therapeutischen Angebote könnte man mit der Patientin besprechen?
  6. Welche Medikamente?

Kasuistik 15.2.2-3: „Ich bin Ihnen so dankbar wegen damals beim Tod meines Mannes“

Seit vielen, vielen Jahren ist sie unsere Patientin. Mein Praxispartner und alle Assistenzärzte unserer Landpraxis kennen Frau V. und ihre große Familie. Alle viertel bis halbe Jahre kommt die heute 56jährige, mal wegen ihrer Krampfadern, mal zur Krebsvorsorge, mal wegen der Schilddrüse, gelegentlich auch wegen „Nervosität“. Heute will sie ihren Tetanus-Diphtherie-Impfschutz vervollständigen. Ich spreche Frau V. gezielt auf ihr trauriges Aussehen an.

Ja, mir geht es wieder einmal gar nicht gut. Ich weiß nicht, was es ist, die Kinder sind jetzt alle aus dem Haus bzw. versorgt. Mein Lebenspartner ist sehr nett zu mir und ein bisschen arbeiten gehe ich auch – gerne. Ich bin halt so.“ Ihren Lebenspartner habe ich noch nie gesehen. Sie sind offensichtlich recht glücklich mit ihm? „Ja, ich kenne ihn erst seit 5 Jahren. Aber Ihnen, Herr Doktor, habe ich es zu verdanken, dass ich überhaupt wieder Kontakt zu einem Mann bekommen habe. Erinnern Sie sich noch? Damals vor 18 Jahren – der Unfalltod meines Mannes auf der Baustelle – meine Kinder waren 5 und 8 und 12 und 13 Jahre und ich stand plötzlich ganz allein da. Die Kinder sind damals immer wieder wie wild über mich hergefallen. Ich hab’s halt so empfunden. Gleich nach der Beerdigung waren alle meine Freunde weg. Da hatte ich einmal in der Nacht einen solchen Herzanfall, 2 oder 2 ½ Jahre nach dem Tod meines Mannes, dass das ganze Bett gezittert hatte. Die Kinder sind im Haus herumgetrampelt, da hatte ich Sie angerufen. Da sind Sie gekommen. Und wissen Sie noch, was Sie gemacht hatten? Als erstes hatten Sie sich die Kinder gepackt, alle miteinander, und zu ihnen gesagt: ‚Kameraden, passt auf eure Mutter auf, die ist die beste Mama der Welt, da muss man so gut zusammenhelfen, wie das der Papa getan hätte.’ Die Kinder hatten ganz respektvoll geschaut, glauben Sie es mir, und zu mir hatten Sie dann vor den Kindern gesagt: ‚Ich glaub, es ist nicht gut, wenn Sie diesen großen Haushalt mit den vielen Kindern alleine führen. Haben Sie schon einmal überlegt, dass wieder ein Mann ins Haus kommt?’ Und zu den Kindern sagten Sie: ‚Was haltet ihr davon: Soll sich die Mutter wieder einen Mann nehmen?’ Da waren die Kinder ganz begeistert und von da an wie ausgewechselt, und mir ist es da wieder innerlich besser gegangen. Ich kannte damals keinen neuen Mann. Aber wie Sie das gesagt haben, hätte ich jederzeit wieder einen haben können, habe ich geglaubt. Das werde ich nie vergessen. Da bin ich Ihnen so dankbar dafür. Auch heute noch.

Stichwörter:

  • Traurigkeit
  • Herzanfall
  • Anruf bei Nacht
Übung:

Überlegungen und Fragen

  1. Welchen Eindruck macht Frau V. auf Sie?
  2. Wie beurteilen Sie die aktuelle Gesprächsführung des Arztes?
  3. Wie beurteilen Sie die Intervention des Arztes beim damaligen nächtlichen Hausbesuch?
  4. Welche Stufe des Lebenszyklus durchlebt Frau V. derzeit?

Kasuistik 15.2.2-4: „Ich hab keinen Mann. Das heißt, ich hab zwei Männer“

Doris S. 28 Jahre, ist seit zwei Jahren in unserer hausärztlichen Behandlung: akute Bursitis am Ellenbogen, Blase am Fuß von Rollerblades, vor 3 Monaten bei meinem Praxiskollegen: „psychische Dekompensation“ steht in der Dokumentation, und „beherrsche mich nicht, oft aufbrausend“. Schilddrüsenwert damals unauffällig. Vor 6 Jahren stationär wegen Neurodermitis.

Mittwochabendsprechstunde. Die junge Frau mit auffälligem Make-up legt gleich los: „So geht das nicht mehr weiter! Alle sagen, ich bin richtig aggressiv. Vielleicht. Ich habe jedenfalls ein schlechtes Gewissen wegen meinem Kind.“ Wie alt ist denn der Kleine? oder die Kleine? „5 Jahre ist sie. Ich arbeite den ganzen Tag. Ich muss das Kind zu meinen Eltern geben. Ich hab keinen Mann, das heißt – ich hab zwei Männer, den Vater, also von dem das Kind ist -, und meinen jetzigen Freund. Die holen beide das Kind schon mal abwechselnd ab. Zum Spielen oder zum Weggehen. Das ist aber auch wohl nicht richtig. Das Kind steht irgendwie neben mir – oder ich neben ihm. Jetzt nässt es noch ins Bett rein, dabei soll es im Herbst in die Schule. Ich hab schon ein schlechtes Gewissen. Ich bin am Ende.

Stichwörter:

  • Aggressivität
  • Mutter-Kind-Problematik
  • Partner-Problematik
  • Familientherapie
Kommentar:

Die Patientin ist in ihrer Selbsterkenntnis und Selbsteinschätzung schon sehr weit. Offensichtlich ist auch der Leidensdruck jetzt gewaltig. Ich reiche der Patientin ein Notizblatt und bitte sie, einmal alle Personen als Punkt oder Kreise einzuzeichnen, die irgendwie mit ihr oder mit ihrem Kind in Beziehung stehen: Dieser Punkt also wären Sie, wo oder wie weit weg oder wie nahe zu Ihnen steht jetzt Ihr Kind, stehen Ihre Männer, die Großeltern usw.? Rasch malt Frau S. ihre Kreise auf. Diese werden dann von mir mit Strichen und mit den Namen der betreffenden Personen versehen. Für mich ergab sich jetzt zwingend die Notwendigkeit, Frau S. an einen Familientherapeuten zu überweisen. Die Patientin war sofort davon überzeugt. Ich fragte noch: Würden Sie lieber zu einem Mann oder zu einer Frau als Therapeuten gehen? Frau S. sagte ohne zu zögern: „Zu einer Frau, natürlich.

Skizzen in der Familienmedizin sind besonders hilfreich, um ein Familiensystem zu durchschauen. In der Familientherapie wird dieses dann auch mit der Familie gemeinsam erarbeitet. Familientherapeuten sprechen hier von einer Familienskulptur.

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