Mader : Fakten - Fälle - Fotos®
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15.3.1 Besonderheiten im Alter

Zusatzinfo

Definition „Geriatrischer Patient“

Ein geriatrischer Patient ist definiert durch die „Geriatrie-typische Multimorbidität“ und höheres Lebensalter (≥ 70 Jahre) – oder

  • „80+“ („oldest old“) aufgrund der alterstypisch erhöhten Vulnerabilität, z. B. des Auftretens von Komplikationen und Folgeerkrankungen, der Gefahr der Chronifizierung sowie des erhöhten Risikos eines Verlustes der Autonomie mit Verschlechterung des Selbsthilfestatus.

 

Die Geriatrie-typische Multimorbidität ist vorrangig vor dem kalendarischen Alter zu sehen. Sie beinhaltet folgende Merkmale:

  • Immobilität, Sturzneigung und Schwindel,
  • kognitive Defizite, Depression, Angststörung,
  • Inkontinenz (Harninkontinenz, selten Stuhlinkontinenz),
  • Dekubitalulzera,
  • Fehl- und Mangelernährung,
  • Störungen im Flüssigkeits und Elektrolythaushalt,
  • chronische Schmerzen,
  • Sensibilitätsstörungen

 

Frailty

Die Geriater Prof. Dr. med. Hager und Dr. med. Krause setzen sich in der Zeitschrift Der Allgemeinarzt 2016  mit Frailty, dem "neuen Begriff und dem alten Problem" auseinander. Der deutsche Begriff "Gebrechlichkeit" suggeriert einen Zustand, der mit therapeutischem Schulterzucken verbunden sein kann, während der besser definierte Begriff Frailty es ermöglicht, sich konstruktiv und vorurteilsfrei auseinanderzusetzen.
http://www.allgemeinarzt-online.de/a/1798962
 

Nierenfunktion im Alter

Der Nephrologe Prof. Dr. med. Alscher geht in der Zeitschrift Der Allgemeinarzt auf die verschiedenen Methoden ein, die Nierenfunktion im Alter zu bestimmen.
http://www.allgemeinarzt-online.de/a/1736053

Mit Hilfe von Formeln (MDRD, Formel nach Cockroft und Gault) lässt sich die glomeruläre Filtrationsrate (GFR) bestimmen und damit die Nierfunktion abschätzen:

Vereinfachte MDRD- Formel

Die sog. MDRD-Formel ist eine Näherungsformel zur Bestimmung der GFR. Dafür müssen das Serumkreatinin, das Alter und das Geschlecht des Patienten bekannt sein. Die Formel wird kontinuierlich weiter entwickelt. Das Akronym MDRD steht für "Modification of Diet in Renal Disease" (Änderung der Ernährung bei Nierenerkrankungen) und geht auf eine gleichnamige Studie zurück. 
http://www.labor-limbach.de/Vereinfachte-MDRD-Fo.220.0.html?&no_cache=1
http://nierenrechner.de/index.php?page=egfr-mdrd


Formel nach Cockroft und Gault

Diese Formel wird zwar noch gelegentlich verwendet, in der Literatur aber nicht mehr empfohlen.
http://nierenrechner.de/index.php?page=egfr-cockroft-gault
 

Mit dem altersbedingten Nachlassen der Nierenfunktion, der Stadieneinteilung der Niereninsuffizienz  sowie mit den Elektrolytstörungen im Alter befasst sich der Internist Dr. med. Paul Brinkkötter in der Zeitschrift Der Allgemeinarzt (2017).
http://www.allgemeinarzt-online.de/a/niere-altert-mit-1806829


Polypharmazie

Die potentiell interagierenden Wirkstoff-Kombinationen (Paare, Triplet, Quartette, Quintette usw.) steigen mit jedem neu hinzugefügten Medikament exponentiell an (Tabelle). Auch wenn nicht alle dieser Interaktionen klinisch relevant sind, so stellen sie doch eine erhebliche Gefährdung des Patienten dar.

Dosierung bei Niereninsuffizienz

Als Hilfsmittel zur Arzneimittelanwendung bei Nierinsuffizienz hat sich die pharmaunabhängige Website "dosing" der Universität Heidelberg bewährt.
http://www.dosing.de/

Tabelle. Anzahl möglicher Kombinationen bei wachsender Anzahl gleichzeitig eingenommener Medikamente (Haefeli u. Facklam 2002).

Anzahl gleichzeitig eingenommener Medikamente

Anzahl möglicher Kombinationen

3

4

4

11

5

26

6

57

7

120

8

247


Priscus-Liste

Im Prinzip ist diese erste deutsche PIM-Liste (PIM = potentiell inadäquate Medikation) ein kurz gefasstes, allerdings inkomplettes Lehrbuch der Pharmakologie für ältere Menschen. Sie beruht auf einer Literaturrecherche (PubMed) und der Auswertung mehrerer amerikanischer PIM-Listen (ausgehend von der amerikanischen „Beer’s List“). Auf dieser Basis wurde eine vorläufige Liste mit 131 potentiell inadäquaten Arzneistoffen mit deutscher Zulassung erstellt, die 26 Experten in zwei Befragungsrunden zur Beurteilung vorgelegt wurden. Bei 46 Arzneimitteln konnten die Experten keinen Konsens finden, sie als PIM einzustufen. Letztlich wurden 83 Arzneistoffe als riskant eingeordnet. Der Wert der (weder vollständigen noch verbindlichen) Liste liegt in erster Linie darin, dass der Stand des (Experten-)Wissens zusammengefasst und verständlich und übersichtlich dargestellt wird. Die Priscus-Liste soll fortlaufend überprüft und aktualisiert werden (Haug 2011).

Die Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, gibt aber gute Hinweise. Sie suggeriert auch kein Verordnungsverbot, sondern Anwendung nur nach Ausschöpfung anderer Optionen oder unter entsprechenden Sicherheitsmaßnahmen.

Merke
Die Entscheidung im individuellen Fall kann die Priscus-Liste den Ärzten erleichtern, aber nicht abnehmen.


Fälleverteilung bei über 65-Jährigen

Zusammenstellung der 133 regelmäßig häufigen Beratungsergebnisse von Erkrankungen bei Patienten mit 65 Jahren und darüber im Untersuchungszeitraum 1977-1980 aus der österreichischen Landarztpraxis von R.N. Braun nach fallender Häufigkeit (berücksichtigt sind Beratungsergebnisse, die in der betreffenden Altersgruppe mind. dreimal in 3 Jahren beobachtet wurden). Prozentzahl = Anteil der Überfünfundsechzigjährigen an der Gesamtzahl der Patienten (n = 6026). Mader Aug. 2002 [AJ3738, bas. auf R.N. Braun (1986) Lehrbuch der Allgemeinmedizin]

Rang
Altersgruppe
> 65

Rang
alle Lebens-
abschnitte

Beratungsergebnis

Gesamt-
zahl

Alters-
gruppe
> 65

%

n = 6026

1

2

Hypertonie

327

179

2,97%

2

9

Herzinsuffizienz, chronische

166

117

1,94%

3

5

Neuralgien, einfache

225

77

1,28%

4

4

Arthropathien u. Periarthropathien

232

64

1,06%

5

3

Myalgien, einfache

236

57

0,95%

6

12

Vertigo

129

55

0,91%

7

15

Diabetes mellitus

102

48

0,80%

8

6

Husten

203

41

0,68%

9

46

Arterioskl., allgem. Marasmus

38

38

0,63%

10

7

Kreuzschmerzen

176

36

0,60%

11

29

Asthma bronchiale

57

35

0,58%

12

28

Schlaflosigkeit

58

34

0,56%

13

27

Obstipation

62

32

0,53%

14

8

Ekzeme

166

31

0,51%

15

1

Fieber

419

27

0,45%

16

48

Arthrosis deformans

36

27

0,45%

17

14

Beschwerden, wahrscheinl. polymorph.n. organ.

102

24

0,40%

18

25

Varizen

67

22

0,37%

19

30

Thrombophlebitis

57

22

0,37%

20

24

Präkordialschmerzen

69

21

0,35%

21

19

Konjunktivitiden

82

20

0,33%

22

16

Kopfschmerz

92

19

0,32%

23

10

Allgemeinreaktion, afebrile

163

18

0,30%

24

81

Prostatahypertrophie

25

18

0,30%

25

83

Apoplektische Insulte

24

18

0,30%

26

86

Polyarthritis, primär chronische

24

17

0,28%

27

17

Luftwegkatarrhe, afebrile kombinierte

92

16

0,27%

28

78

Malignome, sonstige

25

16

0,27%

29

18

Kontusionen

90

14

0,23%

30

22

Nervositas

76

14

0,23%

31

31

Zerumen

55

14

0,23%

32

11

Erbrechen und/oder Durchfall, akut

137

13

0,22%

33

21

Abdomenopathien, sonstige

79

13

0,22%

34

77

Hyperazidität, Sodbrennen

25

13

0,22%

35

49

Depressionen

36

12

0,20%

36

50

Krämpfe, abdominelle

36

12

0,20%

37

69

Psychosen, chronische

27

12

0,20%

38

117

Parkinsonismus

16

12

0,20%

39

147

Myokardalterationen, bes. Vorhofflimmern

13

12

0,20%

40

61

Urolithiasis

30

11

0,18%

41

65

Ulcus cruris

29

11

0,18%

42

89

Meteorismus

22

11

0,18%

43

97

Cholelithiasis

20

11

0,18%

44

23

Pharyngitis

72

10

0,17%

45

103

Parästhesien ohne besondere Befunde

19

10

0,17%

46

119

Pyelitis

16

10

0,17%

47

66

Achylie

28

9

0,15%

48

121

Arterielle Verschlußkrankheiten

15

9

0,15%

49

 

155

Altersschwerhörigkeit, Hypakusie, Otosklerose

11

9

0,15%

50

35

Schnupfen

47

8

0,13%

51

42

Chirobrachialgien, parästhetische

41

8

0,13%

52

45

Übergewicht

40

8

0,13%

53

93

Naevi

21

8

0,13%

54

118

Pruritus anogenitalis

16

8

0,13%

55

126

Myokardinfarkt

15

8

0,13%

56

131

Cholezystopathien

14

8

0,13%

57

38

Frakturen, sonst., isol. u. multiple

45

7

0,12%

58

71

Hernia inguinalis

26

7

0,12%

59

102

Ossalgien ohne besondere Befunde

19

7

0,12%

60

120

Schwäche und Mattigkeit

16

7

0,12%

61

129

Beinödeme

14

7

0,12%

62

13

Weichteilwunden, einfache

109

6

0,10%

63

56

Alkoholismus

31

6

0,10%

64

60

Ulzera, peptische

30

6

0,10%

65

62

Dermatitis

29

6

0,10%

66

68

Laryngitis

27

6

0,10%

67

74

Tinea pedis und Tinea manus

26

6

0,10%

68

90

Ohrensausen, Ohrenklingen, unchar.

22

6

0,10%

69

111

Alopezia diffusa

16

6

0,10%

70

112

Bronchitis asthmatica

16

6

0,10%

71

135

Füße, kalte

14

6

0,10%

72

141

Bronchitis

13

6

0,10%

73

164

Pruritus, lokaler, außer anogenital

11

6

0,10%

74

195

Herzversagen, akutes, globales

8

6

0,10%

75

218

Hydronephrose, Nephropathie

6

6

0,10%

76

43

Abszesse, einfache

40

5

0,08%

77

47

Hämorrhoiden

37

5

0,08%

78

53

Halsschmerz

33

5

0,08%

79

59

Neuritiden, einfache

30

5

0,08%

80

64

Sinusitis frontalis

29

5

0,08%

81

67

Schwellungen u. Infiltrate, unkl.

28

5

0,08%

82

82

Urtikaria, einfache

25

5

0,08%

83

108

Postcholezystektomie-Beschwerden

18

5

0,08%

84

110

Zecken

17

5

0,08%

85

123

Augentränen, unchar.

15

5

0,08%

86

132

Clavi

14

5

0,08%

87

154

Pruritus, allgemeiner

12

5

0,08%

88

183

Rippenbruch

9

5

0,08%

89

185

Blut im Harn (Hämaturie)

8

5

0,08%

90

192

Hautkrebs

8

5

0,08%

91

217

Grauer Star

6

5

0,08%

92

228

Blutwallungen

5

5

0,08%

93

229

Emphysem

5

5

0,08%

94

232

Extremit. art., akuter Verschluß

5

5

0,08%

95

33

Angina tonsillaris

53

4

0,07%

96

44

Tinea corporis

40

4

0,07%

97

58

Epigastralgien

30

4

0,07%

98

72

Pollakisurie

26

4

0,07%

99

87

Herpes simplex

23

4

0,07%

100

104

Pneumonien

19

4

0,07%

101

109

Otalgien ohne besondere Befunde

17

4

0,07%

102

134

Epilepsiebilder

14

4

0,07%

103

163

Lipom

11

4

0,07%

104

188

Extrasystolie

8

4

0,07%

105

193

Hernia incarcerata

8

4

0,07%

106

194

Hernia umbilicalis

8

4

0,07%

107

26

Klimakterische Beschwerden

64

3

0,05%

108

36

Verletzungen, leichte, kombiniert

47

3

0,05%

109

51

Neoplasien, gutartige, sonstige

36

3

0,05%

110

57

Abszesse, dentogene

30

3

0,05%

111

70

Ekzem der Hände und Füße

26

3

0,05%

112

76

Zystitis

26

3

0,05%

113

85

Kardiopathie, polymorphe

24

3

0,05%

114

91

Stichverletzungen

22

3

0,05%

115

100

Ekzem, seborrhoisches

19

3

0,05%

116

127

Tachykardien, anfallsweise

15

3

0,05%

117

128

Atherom

14

3

0,05%

118

143

Deszensus von Uterus u. Vagina

13

3

0,05%

119

150

Beinkrämpfe

12

3

0,05%

120

156

Anfälle

11

3

0,05%

121

172

Intertrigo bei Erwachsenen

10

3

0,05%

122

175

Monoarthropathien mit Erguß

10

3

0,05%

123

201

Zungenbrennen

8

3

0,05%

124

204

Anorexie, unchar.

7

3

0,05%

125

206

Herpes zoster

7

3

0,05%

126

207

Onychogryposis

7

3

0,05%

127

211

Unguis incarnatus

7

3

0,05%

128

213

Zystopyelitis

7

3

0,05%

129

216

Erysipele

6

3

0,05%

130

222

Psychosen, akute

6

3

0,05%

131

226

Adhäsions- und Narbenbeschwerden

5

3

0,05%

132

230

Enuresis und Inkontinenz, sonst.

5

3

0,05%

133

283

Radiusfraktur, typische

3

3

0,05%

 

 

 

6026

1770

29,37%

 

Fallbeispiel

Kasuistik 15.3.1-1: Die 96-Jährige: Somnolent in die Klinik, wieder somnolent nach Hause

Mit dem Notarzt wurde die somnolente 96-jährige Patientin in die Klinik gebracht. Einige Tage später wurde sie wieder nach Hause mit folgendem Entlassungsbrief zurückverlegt:

„96-jährige Patientin in red. AZ, RR 168/86, HF 72/min. Bei Notarzteinsatz Somnolenz bei BZ 2 mmol/l, keine Besserung unter 40 ml Glukose 40 %. Zusätzlich besteht eine exazerbierte COPD mit auskultatorisch inspiratorischem Stridor, deshalb Prednisolut und Euphyllong.

Diagnosen (Anm. u. a.): Pneumonie links, Dekompensierte Herzinsuffizienz NYHA III-IV bei art. Hypertonie und Cor hypertonicum, Niereninsuffizienz Stadium der kompensierten Retention (etwa Stadium II-III).

Therapieempfehlung:

Digitoxin 0,07 tägl. 1 Tabl. mit Pause Samstag und Sonntag
ASS 100 tägl. 1 Tabl.
Torem 5 tägl. ½ Tabl.
Ebrantil 60 3 x 1
Lisinopril 10 2 x 1
Moxonidin 0,3 2 x 1
Amlodipin 5 2 x 1
Rasilez 300 tägl. 1 Tabl.
Beloc zok mite 2 x 1
Euphyllong 200 2 x 1
Novonorm 3 x 1

                  

Stichwörter:

  • somnolente hochbetagte Patientin mit COPD bei NYHA III-IV, Hypertonie
  • Absetzen der Antihypertensiva und des Antidiabetikums („Arzneimittelfasten“)
Kommentar:

Die Patientin war bei Rückkehr anurisch und somnolent. Daraufhin setzte der Hausarzt alle Antihypertensiva sowie Novonorm ab: damit deutliche Besserung des AZ als vor der stationären Behandlung. Am 2. Tag wieder Urinausscheidung. Nach 1 Wo deutliche Aufhellung des Sensoriums. Es bestand keine Notwendigkeit einer oralen Therapie des Glukosestoffwechsels. Der Blutdruck stieg auch in den folgenden Wochen nicht > 150/90 mmHg an.

(Quelle: D. Sturm (2013) Pharmakotherapie im Alter. Kirchheim, Mainz)

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