Mader : Fakten - Fälle - Fotos®
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15.7 Notfälle

Zusatzinfo

In der Allgemeinmedizin gehören zu den "Notfällen" nicht nur jene mehr oder minder "typischen" sofortigen Einsätze mit Rettungskoffer etc., meist aus dem vollen Praxisbetrieb heraus, sondern auch die eher weniger spektakulären sofortigen Interventionen, wenn ein vermuteter oder offenkundiger seelischer Ausnahmezustand den Patienten oder seine Angehörigen in die Praxis getrieben hat.


Fallbeispiel

Kasuistik 15.7-1: Suizid der jungen Frau: Krisenintervention in der Großfamilie

Montagssprechstunde. Das ganze Wartezimmer voller "Grippe"-Fälle. Ich habe es schon gerüchteweise gehört und am Wochenende in der Regionalzeitung gelesen, dass eine 31-jährige Frau "tragisch aus dem Leben geschieden" ist. Sie hätte am Donnerstag nicht - wie üblich - ihr Kind vom Kindergarten abgeholt, sondern sei auf den nahegelegenen Klettersteig gestiegen und habe sich dort vom Fels gestürzt. Unfassbar für alle, auch für unsere Praxis, die seit Jahren - bis auf das Kind - die im selben Haus zusammen wohnende junge Familie sowie die Schwiegereltern der aus dem Leben Geschiedenen betreut.

Unangemeldet kommen um 10.30 Uhr die Großeltern. Eine Arzthelferin verweist auf einen Funktionsraum unserer Praxis, wohin sie zuvor die beiden diskret hingelotst hatte. Ich gehe unverzüglich zu ihnen. Sie sitzen mit Wintermänteln auf einer Untersuchungsliege. Stumm. Ich ziehe mir einen Hocker heran und setze mich ganz nah dazu. Meinen Helferinnen habe ich gesagt, dass ich jetzt die nächste halbe Stunde nicht gestört werden möchte.

Der Mann, 56 Jahre alt, der es immer noch nicht verwinden konnte, dass er bereits vor 4 Jahren auf seinem Arbeitsplatz als äußerst zuverlässig geltender Schachtmeister ausgebootet wurde und einem Jüngeren Platz machen musste und der mich seither mit seiner Depression fortlaufend aufsucht (zuletzt vor 8 Tagen: "Ich träume nachts nur von der Arbeit. Alles geht schief im Traum"), stößt immer wieder hervor: "Opa, sagt der Kleine zu mir, Opa, nicht weinen, die Mama ist jetzt im Himmel". Und auf der Toilette hätte er gesungen: "Lieber Gott lass mich sterben, dass ich die Mama wieder sehe." Seine Ehefrau nickt nur dazu. Ich lasse sie ausschweigen und nehme beide vorsichtig an der Hand: Sie wissen ja, welche Aufgabe jetzt in den nächsten Jahren auf Sie zukommt, vor allem auf Sie als Frau und Mutterersatz?" Die Frau: "Natürlich! Das war ja mein erster Gedanke." Nach einer Weile: "Unsere Schwiegertochter war immer ein verschlossener und schwieriger Mensch. Aber wir haben uns nie in die Ehe der jungen Leute eingemischt. Dabei hätten wir es alle so schön haben können. Aber irgendwo ist unser Sohn jetzt erleichtert." Eigentlich wollten sie nur "eine Spritze" oder "etwas für die Nerven" wegen der morgigen Beerdigung. Ich verordne einen Tagestranquilizer und biete weitere Gespräche an: "Vor allem mit Ihrem Sohn würde ich mich noch gerne unterhalten. Vielleicht heute Abend um 16.30 Uhr, eine halbe Stunde vor der Abendsprechstunde? Da habe ich etwas mehr Zeit. Sagen Sie es ihm doch bitte!" Inzwischen war meine Sprechstunde organisatorisch vollständig zusammengebrochen.

30 Minuten später saß der Sohn in meinem Sprechzimmer. Ich bat ihn, den Mantel abzulegen, er lehnte ab. "Erzählen Sie mir doch bitte etwas über Ihre Frau. Wie ich in ihrer Karteikarte nachgeschlagen hatte, war sie gelegentlich bei uns wegen ihrer auswärts mitbehandelten Depression, um sich lediglich ihre Medikamente verlängern zu lassen. Zuletzt habe ich sie vor einem halben Jahr gesehen, da hatte sie einen harmlosen Lymphknoten unter dem Kinn."

Gepresst kam es dann aus dem jungen Mann heraus: "Schon die Mutter meiner Frau ist mit 70 Jahren an Depression gestorben. Zweimal war meine Frau selbst stationär in der Nervenklinik, zuletzt nach der Geburt unseres Kindes vor vier Jahren. Danach hatte sie regelmäßig Kontakt mit dem dortigen Ambulanzarzt, Dr. A., der hatte sie auch mit Medikamenten vollgepumpt (Anm.: Hypnorex 2x1, Tofranil 50 4x1). Vielleicht hat sie das gebraucht. Als Kind wollte sie schon zweimal ins Wasser gehen: 'Ich bring mich um', hatte sie damals zu ihrer Schwester gesagt. Dann hatte sie vor einem halben Jahr von einem Heilpraktiker gehört, der ihr geraten hatte, sofort alle Medikamente wegzulassen, auch die Antibabypille. Die ersten 14 Tage waren schlimm, so muss ein Alkoholentzug sein. Dann aber ging es meiner Frau von Woche zu Woche besser, ich hab das an ihren Augen ablesen können, sie hat sogar gestrahlt, ganz anders ist sie dahergekommen, die Mundwinkel standen höher. Ich bin selbst schon ein halber Doktor. Wirklich. Jede Woche war sie bei dem Heilpraktiker. Bis zu einer Stunde lang hat er mit ihr gesprochen, Sauerstofftherapie bei ihr gemacht, Reflexzonenbehandlung und alles andere auch noch. Jetzt hat sie erstmals wieder versucht zu arbeiten in ihrem Beruf als Rechtsanwaltsgehilfin. 4 bis 5 Arbeitsversuche sind gescheitert. Da hat sie nie was dafür gekonnt in der heutigen Zeit. 'Ich bin ein Versager' hat sie mir mal vor kurzem gesagt. Dabei waren wir vor 8 Tagen noch abends im Bett gelegen und haben uns an der Hand gehalten: 'Ich bin so froh, dass du da bist', hat sie gesagt. Ich hätte nie gedacht, dass sie so was macht wegen unseres Kindes."

Beratungsproblem:

  • Suizid
  • Akute Trauerreaktion
  • Depression

Stichwörter:

  • Erlebte Anamnese
  • Krisenintervention
  • Familienmedizin
  • Komplementärmedizin ("Außenseitermedizin")
  • Abwendbar/unabwendbar gefährlicher Verlauf
Kommentar:

Vorweg: Auch bei noch so vollem Wartezimmer muss sich jeder Allgemeinarzt sofort und ausreichend Zeit für eine Krisenintervention nehmen!

In ganz besonders einprägsamer Weise beschrieb Ludwig Binswanger im "Fall Ellen West" (1945) die Todessehnsucht einer schizophrenen Patientin: Schon als Kind fand sie es "interessant", tödlich zu verunglücken, beispielsweise beim Schlittschuhlaufen auf dem Eis eines Weihers einzubrechen. Nach 4 Selbstmordversuchen wurde sie in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Nach der Entlassung aus der Kuranstalt Bellevue nahm die Patientin eine Dosis Gift, wodurch sie ihr lebenslanges Ziel - den Tod - erreichte. Die Angst der Patientin war überhaupt die Angst vor dem In-der-Welt-Sein als solchem. Sie hatte Angst vor allem ihr Begegnenden, im Grunde auch vor dem Tod, und doch erschien er ihr als einziger Retter aus diesem Dasein. [Gion Condrau (1991) Der Mensch und sein Tod]

Merke
Suizidgefährdete sind äußerst schwer zu behandeln. Der zum Selbstmord Entschlossene hält sich nicht für behandlungsbedürftig, nicht für krank. [Cermak I (1972) Ich klage nicht. Wien]

Übung:

Fragen und Überlegungen:

  • Wie beurteilen Sie das Zusammenleben der Großfamilie in der Vergangenheit?
  • Wie hätten Sie sich unter den gegebenen Praxisbedingungen spontan verhalten? Gegenüber dem jungen Witwer? Gegenüber den Großeltern?
  • Was sagen Sie zu der psychischen Entwicklung der jungen Frau im letzten halben Jahr?
  • Hätte sich der Selbstmord verhindern lassen? Hätte der Hausarzt etwas dazu beitragen können?
  • Können Sie sich weiterführend Hilfen vorstellen, die Sie der Restfamilie anbieten?

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