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3.1.2 Fibromyalgiesyndrom

Zusatzinfo

Wissenswertes

Der Begriff „Fibromyalgie“ wurde erstmals von Hench 1976 benutzt. Die Patienten haben häufig einen erheblichen Leidensdruck sowie Einschränkungen der gesundheitsbezogenen Lebensqualität. Die Behandlung wird sowohl von den Betroffenen als auch von den Behandlern häufig als enttäuschend erlebt.


Mögliche komorbide psychische Störungen

  • Anhaltende somatoforme Schmerzstörung: Bei 40-70 % der Patienten lassen sich emotionale oder psychosoziale Konflikte im zeitlichen Zusammenhang mit der Manifestation oder Intensivierung der Schmerzsymptomatik explorieren.
  • Affektive Störung und Angststörung: Prävalenz der affektiven Störungen zwischen 20 und 80 % und von Angststörungen zwischen 15 und 65 %.
  • Polysymptomatisches funktionelles somatisches Syndrom: Die Prävalenz anderer funktioneller somatischer Syndrome wie Reizdarmsyndrom oder Chronic-Fatigue-Syndrome liegt zwischen 20 und 80 %.

(Quelle: Häuser et al. 2009)


Obligate Laboruntersuchungen bei Erstevaluation bei chronischen Schmerzen in mehreren Körperregionen
(S3-LL, Häuser et al. 2009):

  • BKS, C-reaktives Protein, kleines Blutbild (Hinweise auf Polymyalgia rheumatica, rheumatoide Arthritis)
  • Kreatinkinase (Hinweise auf Muskelerkrankungen)
  • Kalzium (Hinweise auf Hyperkalziämie)
  • TSH basal (Hinweise auf Hypothyreose)

Empfehlungen für ein abgestuftes Therapiekonzept für eine zeitlich befristete Behandlung (S3-LL, Häuser et al. 2009):

(Behandlungsstufe und Therapieoptionen sollen in gemeinsamer Entscheidungsfindung von Patient und Behandler unter Berücksichtigung der Patientenpräferenzen und Komorbiditäten gewählt werden)

Stufe 1

  • kognitiv-verhaltenstherapeutische und operante Schmerztherapie inklusive Patientenschulung (EvG 1a, Empfehlungsgrad A, starker Konsens)
  • an individuelles Leistungsvermögen angepasstes aerobes Ausdauertraining (EvG 1a, Empfehlungsgrad A, starker Konsens)
  • Bewegungstherapie im Wasser/Aquajogging (EvG 1a, Empfehlungsgrad A, Konsens)
  • Spa-Therapie (Baden in warmem Wasser von Thermalquellen) (EvG 1a, Empfehlungsgrad A, Konsens)
  • Amitryptilin 25-50 mg/d (EvG 1a, Empfehlungsgrad A, starker Konsens)
  • Diagnostik und Behandlung komorbider körperlicher Erkrankungen und seelischer Störungen (EvG 5, Empfehlung offen, starker Konsens)

Stufe 2

  • multimodale Therapie (obligat eine aufeinander abgestimmte medizinische Trainingstherapie oder andere Formen der aktivierenden Bewegungstherapie in Kombination mit psychotherapeutischen Verfahren) (EvG 1a, Empfehlungsgrad A, starker Konsens)
    – primär ambulant; (teil-)stationär, wenn ambulante Maßnahmen nicht ausreichend bzw. nicht möglich
    – (Abteilung für Schmerztherapie oder Psychosomatische Medizin in Akutkrankenhaus bzw. rheumatologische oder psychosomatische Rehabilitationsklinik)

Stufe 3

  • zeitlich befristet: Duloxetin 60-120 mg/d oder Fluoxetin 20-40 mg/d oder Milnacipran 100-200 mg/d oder Paroxetin 20-40 mg/d oder Pregabalin 150-300 mg/d (EvG 1a, Empfehlungsgrad B, mehrheitliche Zustimmung)
  • zeitlich befristet: Hypnotherapie/geleitete Imagination (EvG 2b, Empfehlungsgrad B, Konsens) oder therapeutisches Schreiben (EvG 2b, Empfehlungsgrad B, starker Konsens)
  • multimodale Intervall- bzw. Boostertherapie (EvG 5, Empfehlung offen, starker Konsens)
  • zeitlich befristet: komplementäre Therapieverfahren (Homöopathie bzw. vegetarische Kost) (EvG 2b, Empfehlungsgrad offen, Konsens)

Mehr oder minder „typische“ Symptome

  • Polytopie. Beschwerden in mehreren topographisch nicht zusammengehörenden Körperregionen, wobei keine Folgen einer akuten oder chronischen Überbeanspruchung (einschließlich repetitiver Bewegungsabläufe oder andauernder Zwangshaltung) vorliegen.
  • Inadäquanz. Inadäquate, affektiv gefärbte Schilderungen der Beschwerden (s. o.).
  • Ungenauigkeit (Diffusität). Auf Nachfragen können keine genauen Angaben über Lokalisation und zeitliches Auftreten gemacht werden (überall – mal hier, mal dort – immer gleich – immer schlimmer – schon immer).
  • Diskrepanz. Objektiv leichte körperliche Arbeiten werden subjektiv als schwere Überforderung erlebt, z. B. das Auftreten von Schmerzen bei alltäglichen Verrichtungen.
  • Gesprächigkeit. Schwer unterbrechbarer Redefluss, weitschweifend, wiederholend, pathetisch.
  • Suggestibilität. Erhöhte Empfänglichkeit, leichte Beeinflussbarkeit (schon beim Zeigen auf eine potentiell schmerzhafte Stelle äußert der Patient eine Schmerzreaktion).
  • Persistenz. Langdauernde, wiederholt vorgebrachte Klagen über körperliche Beschwerden werden trotz gründlicher Abklärung, bei der sich kein adäquater Befund erheben lässt, immer wieder vorgetragen.
  • Inkonstanz. Trotz der Persistenz (s. o.) wechselt das Ausmaß bzw. die Schilderung der Symptomatik zum Teil kurzfristig (Ablenkungen), z. T. mittelfristig (Urlaub, Arbeit) oder langfristig (z. B. depressive Phasen bei Schicksalsschlägen). Mit in den Bereich der Suggestibilität gehört dabei auch oft ein vorübergehendes Ansprechen auf therapeutische Bemühungen, welches meist um so ausgeprägter ist, je „einschneidender“ die Maßnahme ist oder empfunden wird. Dies erklärt nicht nur, warum bei FM-Patienten die Zahl an operativen Eingriffen höher ist als in der gleich alten Normalbevölkerung, sondern auch, warum Operationen oft mit „Heilungen“ der Beschwerden einhergehen, auch wenn sie gar nichts mit der Körperregion zu tun hatten (Cholezystektomie, Hysterektomie). Leider halten diese allerdings nicht lange an und der Patient entwickelt wieder gleiche Beschwerden oder ähnliche auf einem anderen Fachgebiet (s. u.).
  • Nervosität. Zittern, Muskelspannung, Herzklopfen, Schwitzen, Unfähigkeit, sich zu entspannen, Sich-gestresst-fühlen, innere Unruhe, Konzentrationsstörungen und Rastlosigkeit.
  • Depressivität. Hinweise auf gedrückte Stimmung, Interessenverlust, Verlust der Genussfähigkeit, Antriebsminderung, morgendliches Tief, Appetit-, Gewichts-, Libidoverlust.
  • Funktionelle Beschwerden außerhalb des Bewegungssystems. Schlafstörungen (Ein- und Durchschlafstörungen, frühes Erwachen, unerholsamer Schlaf, verstärkte Traumtätigkeit), Kopfschmerzen, Migräne, kardiovaskuläre (Herzphobien, Kreislaufregulationsstörungen, Herzstiche), urogenitale (Dysurie, Menstruationsbeschwerden), Atembeschwerden.
  • Hypochondrie. Unbegründete Furcht, an einer schweren Krankheit zu leiden bzw. eine solche zu bekommen (z. B. im Rollstuhl landen, Karzinophobie).
  • Arzt-Patientenbeziehung. Häufiger Wechsel, beidseitig als unangenehm erlebte Arzt-/Therapeutenbeziehung, sich entwickelndes Misstrauen, hartnäckiges Fordern neuer Untersuchungen, häufiger Wechsel der Medikamentenverordnung, Aufbau von Aggression beim Arzt.
  • Psychosomatische Vordiagnosen. Der Patient gibt an, dass bereits von anderen Ärzten Diagnosen, wie z. B. „vegetative Dystonie“, „nervöse Störung“, depressive Verstimmung“, geäußert worden seien.
  • Kontroverse Beurteilung in Vorbefunden. Der Patient beruft sich auf z. T. widersprüchliche körperliche Diagnosen, die die Beschwerdesymptomatik nicht erklären (z. B. degenerative Wirbelsäulenveränderungen, schiefes Becken, Gleitwirbel, M. Scheuermann).
  • Therapieresistenz. Erlebte Unwirksamkeit von Maßnahmen oder Medikamenten, u. U. nach kurzfristigem Ansprechen, erhöhte Nebenwirkungsbereitschaft. Die Patienten lehnen alle vorgeschlagenen Maßnahmen ab.

Objektivierung des Beschwerdebilds

Die moderne Bildgebung beweist, dass Betroffene eine veränderte Schmerzwahrnehmung haben. Heute geht man davon aus, dass dieses weit verbreitete chronische Schmerzsyndrom durch einen Mangel an erholsamem Schlaf ausgelöst wird.


Therapie

Ziel der Behandlung ist es, dem Patienten Strategien in die Hand zu geben, mit seiner Krankheit besser und aktiver umzugehen. Evidenzbasiert sind Bewegungstherapie mit individuell angepasstem Ausdauer- und Krafttraining sowie aktivierende Psychotherapie mit z. B. Entspannungs- und kognitiver Verhaltenstherapie. Natürlicherweise ist beides bei Tai Chi und Yoga miteinander verbunden. Bestimmte Antidepressiva können zeitlich begrenzt und niedrig dosiert angewendet werden, also in einer Dosis, in der sie schmerz- und nicht stimmungsmodifizierend wirken.
 

Interdisziplinäre S3-Leitlinie „Definition, Pathophysiologie, Diagnostik und Therapie des Fibromyalgiesyndroms. http://dgrh.de/leitliniefms.html

 

Fibromyalgie Dauerschmerz

Die Fibromyalgie-Symptome (vegetativ, funktionell, psychisch) - ICD-11-Klassifikation MG30 ("chronisches primäres Schmerzsyndrom") - stellt H. Westermann von der Deutschen Fibromyalgievereinigung e.V. in der Zeitschrift Der Allgemeinarzt (2021) 7: 18-19 vor
https://allgemeinarzt.digital/epaper-data/Der-Allgemeinarzt-2021_7/18/index.html

zum Thema "Schmerztherapie" vgl. auch Mader:Fakten-Fälle-Fotos © Kap.15.5.1 Schmerztherapie
http://www.fakten-faelle-fotos.de/index.php?content=2&ivz_id=475&anker_nr=392


Fallbeispiel

Kasuistik 3.1.2-1: Mutter von 8 Kindern: Leistungsknick und Muskelschmerzen

Eine 52-jährige Mutter von 8 Kindern, darunter eines mit Down-Syndrom, klagt über Leistungsknick und Muskelschmerzen: „Ich bin mit den Nerven völlig fix und fertig, alles bleibt liegen, ich komm mit der Arbeit nicht mehr rum. Die Kinder! Mein Mann! Der Haushalt! Und dann noch die Schmerzen! Alles tut weh! Selbst den Spüllappen kann ich nicht mehr auswringen.“ Die Patientin arbeitete bis vor kurzem stundenweise als Produktionshelferin.

Die Schmerzen haben schleichend begonnen: Neben dem Schulter- und Beckengürtel auch Ellenbogen, Knie und Wirbelsäule. Druckschmerzhaftigkeit bei der körperlichen Untersuchung an den Tenderpoints der betroffenen Körperabschnitte. Im Routinelabor keine Auffälligkeiten.

Kommentar:

Das Beschwerdebild ließ zunächst an ein typisches Fibromyalgiesyndrom denken. Die Patientin war in den ersten Gesprächen auf die Verordnung eines Schmerzmittels fixiert: „Da muss es doch was geben? Das können nicht nur die Nerven sein! Ich möchte zum Rheumatologen!“ Überweisung auf Wunsch. Vertiefung der Diagnostik im Spezialbereich durch Gelenksonographie und Gelenkszintigraphie: keine pathologischen Befunde, jedoch Aufdeckung einer autoimmun bedingten Hypothyreose. Empfehlung von körperlichem Ausdauertraining, das die Patientin jedoch ebenso wie die Behandlung mit einem (niedrig dosierten) trizyklischen Antidepressivum ablehnte bzw. absetzte („Da kann ich ja gleich im Stehen schlafen!“). Einleitung der Behandlung der Hypothyreose mit Festlegung der Labor-Kontrollintervalle. Erklärung der Fibromyalgie im Zusammenhang mit Stress und dem Verhaltensmuster wie Perfektionismus und Über-Hilfsbereitschaft. Hausaufgaben wie „Probieren Sie einmal diese Woche, irgendwo Hilfe in Anspruch zu nehmen“ oder „Versuchen Sie, etwas liegen zu lassen“. Nach der 2. Sitzung hatte die Patientin den Arztkontakt abgebrochen.

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