Mader : Fakten - Fälle - Fotos®
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15.11 Leichenschau

Zusatzinfo

Wissenswertes

Die Leichenschau ist der letzte Dienst des Arztes am Patienten. Mit ihr sind der Rechtssicherheit und dem öffentlichem Interesse dienende Aufgaben verbunden. Zu ihr gehören die Feststellung des Todes, Angaben zur Todesursache und die Frage, ob der Tod durch eine natürliche oder nicht natürliche Ursache eingetreten ist (Qualifikation der Todesarzt). Lt. Todesursachenstatistik handelt es sich bei etwa 4 % aller Todesfälle um nicht natürliche Todesursachen: Dabei entfallen jährlich etwa 10.000 Fälle auf Suizide, 6.000 Todesfälle auf häusliche Unfälle, knapp 6.000 Todesfälle auf Verkehrsunfälle, 526 Todesfälle auf tätliche Angriffe. Nach einer multizentrischen Studie ist davon auszugehen, dass ca. 1.200 Tötungsdelikte pro Jahr in der Bundesrepublik Deutschland durch die Leichenschau nicht erkannt werden (Madea u. Rothschild 2010). 50 % der Sterbefälle ereignen sich in Krankenhäusern, ca. 25 % zu Hause und ca. 15 % im Pflegeheim. Die übrigen 10 % verteilen sich auf Verkehrsunfälle, Arbeitsunfälle usw. Arzt/Ärztin als Angehörige einer gestorbenen Person dürfen keine Leichenschau vornehmen.
 

Vertrocknungen

Zu den frühen Leichenerscheinungen gehört auch das Vertrocknen von Haut und Schleimhaut, insbesondere im Bereich der Konjunktiven und Hornhäute bei unvollständigem Lidschluss, der LippenAkrengroßen Schamlippen und des Hodensacks. Auch oberflächlicheHautschürfungen mit frei liegenden tieferen Hautschichten können nach dem Tod gelb-bräunlich vertrocknen und sich lederartig verhärten (Schwarz et al. 2015).


Totenstarre

Es empfiehlt sich zur Prüfung der Totenstarre, Kiefergelenk und große und kleine Gelenke im Seitenvergleich passiv zu bewegen, um etwaige Widerstände und deren Ausprägung in mehr als nur einem Gelenk beurteilen zu können. Achtung: Verwechslungsgefahr von Kältestarre oder Kontrakturen  mit Totenstarre (Schwarz et al.2015).


Erschwerte Bedingungen

für den leichenschauenden Arzt können sein: 
- keine Hilfsperson zum Entkleiden und Drehen des Leichnams,
- keine anwesenden Angehörige,
- unübersichtlicher Fundort.


Verständigung der Polizei

  • bei nicht natürlichem Tod,
  • nicht geklärter Todesart,
  • Leiche eines Unbekannten.
     

Feststellung der Todesursache

Das Grundleiden ist vor allem von statistischer Bedeutung. Funktionelle Endzustände jedes Sterbeprozesses wie Herzstillstand, Atemstillstand, elektromechanische Entkoppelung sollten keinesfalls in die Todesursachenkaskade eingetragen werden, sondern die Krankheit, Verletzung oder Komplikation, die den Tod herbeigeführt hat. „Altersschwäche“ ist keine Todesursache. Es liegen jeweils morphologisch fassbare Grundleiden und Todesursachen vor.
 

Ungeklärte Todesart

Die Todesart ist nicht geklärt, wenn die Todesursache durch die Leichenschau auch unter Berücksichtigung der Anamnese nicht erkennbar ist. Bei Tod in Zusammenhang mit ärztlichen Maßnahmen sollte die Todesart wegen des behördlichen Todesursachenermittlungsverfahrens immer als nicht geklärt qualifiziert werden. Bei alten Menschen ist immer zu fragen, ob Anamnese und Schweregrad der diagnostizierten Erkrankung das Hier und Jetzt des Todeseintritts erklären.
 

Merke
Lassen Sie sich nicht durch Angehörige oder Polizeibeamte unter Druck setzen! Nur der Arzt entscheidet, wie er den Totenschein ausfüllt.
 

Reanimationsverzicht bei Patientenverfügung

Wird auf Grund einer Patientenverfügung auf eine Reanimation verzichtet, dann ist mit dem Ausfüllen der Todesbescheinigung so lange zu warten, bis die ersten sicheren Todeszeichen eintreten (Schwarz et al. 2015).
 

Fallstricke und Irrtümer

In mehreren Beiträgen hat sich die Zeitschrift Der Allgemeinarzt in den Jahren 2011 - 2016 mit dem äußerst komplexen Thema "Leichenschau durch den Hausarzt" auseinander gesetzt, beispielsweise:

- Kann ein Arzt die Leichenschau ablehnen? 
- Wie lange darf sich ein Arzt Zeit lassen, wenn er zur Leichenschau gerufen wird? 
- Was ist ein "natürlicher" und ein "nicht natürlicher" Tod?  
- Ist Tod nach Treppensturz eine "natürliche Todesursache"? 
- Muss man zweimal die Leiche untersuchen? Was ist mit dem Begriff "Altersschwäche"? 

Die Rechtsmediziner Gabriel und Huckenbeck befassen sich in der ZFA (Stand: 2011) mit der "Todefeststellung: Grundregeln, Durchführung und häufigen Fehlern".
https://www.online-zfa.de/article/todesfeststellung-grundregeln-durchfuehrung-und-haeufige-fehler/cme-cme/y/m/789

http://www.allgemeinarzt-online.de/a/1777850

http://www.allgemeinarzt-online.de/a/1777858

http://www.allgemeinarzt-online.de/a/1769074

http://www.allgemeinarzt-online.de/a/1646482

http://www.allgemeinarzt-online.de/a/1571949

http://www.allgemeinarzt-online.de/a/1562911

 

Altersschwäche ist keine Diagnose

Der Allgemeinarzt Dr.med. Holger Schnering und die Redakteurin Stefanie Lindl-Fischer schreiben in der Zeitschrift Der Allgemeinarzt (2011) : "Altersschwäche ist keine Krankheit", daher ist der Eintrag "Altersschwäche als Todesursache" inkorrekt.
"Altersschwäche" ist tabu

 

Wertvolle Hilfen für den Totenschein

Bei der Angabe der Todesursachenkaskade auf dem Totenschein können die 4 Sterbenstypen für den Arzt eine große Hilfe darstellen, wie die Rechtsmediziner Doberentz und Madea in der Zeitschrift Der Allgemeinarzt schreiben:

http://www.allgemeinarzt-online.de/a/1750136

http://www.allgemeinarzt-online.de/a/1641762

 

Postmortale Schweigepflicht

Auf die für den behandelnden Arzt im Einzelfall oftmals schwierige Entscheidung, sich als Zeuge in Gerichtsverfahren (z.B. wegen Erbstreitigkeiten) auf das ärztliche Schweigerecht zu berufen, weisen Parzeller et al. 2016 in einem umfangreichen Beitrag im Deutschen Ärzteblatt hin.
http://www.aerzteblatt.de/archiv/183228/Gerichtsbeschluss-Kostenfalle-postmortale-aerztliche-Schweigepflicht
 


Fallbeispiel

Kasuistik 15.11-1. "Erhängt - aber ich habe die Polizei nicht gerufen"

Ein Kollege berichtete vor Jahren: 
"Als junger Arzt vertrat ich im Sonntagsdienst meinen Chef. Da wurde ich nachmittags von jemandem angerufen, ich solle gleich kommen, sein Vater habe sich erhängt. Ich fuhr sofort los und fand den gefasst wirkenden Sohn, der mich in ein Zimmer führte, wo ein älterer toter Mann mit einem Elektrokabel um den Hals am Fenstergriff hing und zusammen gesackt war. Die konfluierenden Totenflecke ließen darauf schließen, dass der Todeszeitpunkt rund 1 - 2 Stunden zurück liegen musste. Ich identifizierte den Toten anhand seines Fotos im Personalausweis. Der Tote war demnach 77 Jahre alt. Der Sohn zeigte mir den äußerst umfangreichen Medikationsplan des Hausarztes, bei dem verschiedene Kombinationen mit Antidepressiva auffielen: "Mein Vater hatte schon immer aus dem Leben gehen wollen. Einmal haben wir ihn grade noch entdeckt und ins Krankenhaus gebracht." Die letzte stationäre Behandlung in der Psychiatrie war laut Sohn vor 7 - 8 Wochen: "Bitte holen Sie auf keinen Fall die Polizei. In diesem Wohnblock gibt es schon genug Probleme." Für mich war die Kausalität klar nachvollziehbar. Ich stellte einen Leichenschauschein aus und verzichtete auf die Benachrichtigung der Polizei."
 

Kommentar:

Dr.med.Clara-Sophie Schwarz, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Rechts-und Verkehrsmedizin der Universität Heidelberg (Direktorin: Prof. Dr.med. Kathrin Yen) wurde um einen Kommentar zu dieser Kasuistik für unsere Internetplattform "Fakten- Fälle- Fotos" gebeten und äußerte ihre erheblichen Bedenken gegen das Vorgehen des Kollegen:

"Tritt der Tod infolge eines krankhaften inneren Geschehens und unabhängig von rechtlich bedeutsamen äußeren Einflüssen auf, handelt es sich um eine 'natürliche' Todesart. Bei allen anderen Todesfällen (UnfallFremdtötungSelbsttötung, UnterlassungshandlungBehandlungsfehler sowie bei unklaren Todesfällen) ist eine 'nicht natürliche' Todesart zu bescheinigen! Eine (vermeintliche) Selbsttötung entspricht auch bei bekannter Depression immer einem nicht natürlichen Tod, da die Depression als innere Erkrankung an sich nicht tödlich ist, sondern der Todeseintritt eine Handlung erfordert. Mit der Klassifizierung der Todesart äußert sich der Arzt zu keiner Schuldfrage; die Ermittlungsarbeit obliegt den dafür zuständigen Behörden! Der Meldepflicht eines nicht natürlichen Todes gegenüber der Polizei nicht nachzukommen entspricht zumindest einer Ordnungswidrigkeit, auch strafrechtliche Folgen etwa wegen Strafvereitelung sind denkbar."

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