Mader : Fakten - Fälle - Fotos®
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1.3.6 Programmierte Diagnostik

Zusatzinfo

Wissenswertes

R. N. Braun fertigte im Jahre 1958 für Seminarzwecke Tonbandmitschnitte von eigenen, länger dauernden Beratungen an. Er arbeitete damals bereits 15 Jahre in seiner Allgemeinpraxis und hatte in über 60 000 Fällen ärztlichen Beistand geleistet. Über Erfahrungen verfügte er also reichlich. Obwohl unter optimalen zeitlichen Bedingungen aufgezeichnet wurde, zeigten die Bänder in überraschender Weise die Beiläufigkeit, Sprunghaftigkeit, Zerfahrenheit, Inkonsequenz des Vorgehens und fehlende Übersicht auf. Damit war klar belegt, dass seine intuitive Diagnostik nur ein bescheidenes Niveau aufwies. 1975 begegnete Braun während einer Gastprofessur in Neuseeland S.R. West, der unabhängig von ihm seit Jahren an „Checklisten” für die eigene Praxis arbeitete. Bei ähnlichen Problemen unterschieden sich die Handlungsanweisungen beider Ärzte nur unwesentlich.

Die Programme wurden 1976 von Braun erstmals für den deutschsprachigen Raum publiziert und von ihm und seinen Mitarbeitern in den Folgejahren fortlaufend aktualisiert und weiterentwickelt. Derzeit gibt es 82 solcher Checklisten[1]. Sie sind ein erstes originäres und spezifisches Werkzeug in der Allgemeinmedizin.

Ausführlich äußern sich die Herausgeber und teilweise auch Autoren der "Programmierten Diagnostik" Mader und Brückner in einem Interview zu den Vorzügen einer solchen strukturierten Vorgehensweise. Leser die sich einloggen, haben auch die Möglichkeit des Zugriffs auf die einzelnen Checklisten:
https://www.springermedizin.de/-ohne-checkliste-faellt-einem-nachweisbar-bestensfalls-die-haelf/17042352


[1] Mader FH, Brückner T (2019) Programmierte Diagnostik in der Allgemeinmedizin. 92 Checklisten nach Braun für Anamnese, Untersuchung und Dokumentation. 6. völlig neu bearb. und erweit. Aflg., Springer-Verlag Deutschland

 

 

Ärztliches Arbeiten unter optimalen Bedingungen

Die Programme sind primär nicht dazu da, mehr Diagnosen (D) zu stellen. Die meisten uncharakteristischen Fälle oder Bilder von Krankheiten bleiben auch nach der programmierten Untersuchung abwartend offen. Das drückt sich auch in den entsprechenden Klassifizierungen (A/B/C) aus. Auch werden die Indikationen zur Überweisung zum Spezialisten oder zur Einweisung in die Klinik nicht berührt. Der Arzt darf jedoch beruhigt sein, auf diese Weise nichts Machbares zu unterlassen. Ohne Programm fällt ihm davon nachweisbar bestenfalls die Hälfte ein. In diesem Sinn bedeutet der Umgang mit solchen Checklisten ärztliches Arbeiten unter optimaler Ausnützung von Zeit und Mitteln. Letztlich sind solche Programme dazu da, dem Arzt ein standardisiertes und jederzeit reproduzierbares diagnostisches Vorgehen zu ermöglichen, das sowohl den Bedürfnissen der Praxis als auch den anerkannten Anforderungen der medizinischen Wissenschaft genügt.

 

Merke
Die Programmierte Diagnostik führt nicht automatisch zu einer exakten Diagnose. Die meisten Fälle, die sich uncharakteristisch präsentieren, bleiben auch nach dem Einsatz einer solchen Checkliste uncharakteristisch.


Barrieren gegen das Vergessen

Fragt ein Arzt aus dem Gedächtnis, also ungestützt seinen Patienten, werden häufig auch vom erfahrenen Praktiker immer wieder wichtige Fragen und Untersuchungsschritte vergessen: beispielsweise beim Fieberfall die Frage nach einem möglichen Tropenaufenthalt, oder bei diffusen Bauchbeschwerden die Frage nach Zyklusanomalien, oder bei übermäßigem Schwitzen die Frage nach Einnahme von Azetylsalizylsäurepräparaten, oder bei Juckreiz die Palpation der Lymphknoten. Letztlich kommt es darauf an, nicht eine „Diagnose zu stellen”, sondern die wichtigsten Abwendbar gefährlichen Verläufe fortlaufend zu bedenken. Das Arbeiten mit solchen Checklisten – das kann nicht oft genug betont werden – ist jedenfalls kein Instrument, um häufiger Diagnosen zu stellen.

 

Raritäten

Die Diagnostischen Programme berücksichtigen nicht nur das regelmäßig Häufige, sondern geben auch Hinweise auf verschiedene potentiell bedrohliche Verläufe, die zwar als Raritäten gelten (z.B. EHEC, Listeriose, Felinose), die jedoch wegen ihrer Aktualität, der Schwere des Verlaufs oder der allgemeinmedizinischen Praxisrelevanz auch für den Hausarzt von Bedeutung sein können.

Natürlich muss der Allgemeinarzt wissen, was häufig und was selten ist, um den breiten Rahmen gut zu kennen, in welchem sich die meisten potentiell bedrohlichen Verläufe als Raritäten abspielen. W. Fink berichtet von einem solchen Fall, bei dem die konsequente Anwendung der Programmierten Diagnostik durch die Hausärztin zwar auch keine Diagnose ergeben hatte, jedoch Anlass für die sofortige Einweisung in eine Universitätsambulanz war. Es kommt heute bekanntlich in unserem Gesundheitssystem zunehmend häufiger vor, dass Patienten bei bestimmten Beschwerden primär den Facharzt in Anspruch nehmen; vor allem Gynäkologen, Orthopäden, Dermatologen und Urologen werden gerne ohne Überweisung aufgesucht. Wenn diese nicht helfen konnten, oder wenn auf die Beschwerden „nicht richtig eingegangen“ wurde, wünschen die Patienten auch eine Beratung durch ihren Hausarzt.

 

Einbeziehung des Patienten

Die Checklisten erfüllen noch eine weitere Funktion: Sie erinnern den Arzt immer wieder daran, offene Fragen zu stellen oder den Patienten nach seinen Vermutungen über die Ursache der Symptome oder Beschwerden aus seiner Sicht zu befragen. Dies ist für manche Patienten eine etwas eigenartige Frage, weil der Betroffene meist der Ansicht ist, dass der Arzt selbst am besten über seine Erkrankung Bescheid wissen müsse, den er eigens deswegen konsultiert habe. Der Arzt kann jedoch antworten, dass sich immer wieder gerade durch solche Fragen Hinweise auf die Art der Erkrankung ergeben hätten, wodurch man letztlich rascher zu einem Beratungsergebnis komme.

Überdies deutet der Arzt dem Patienten an, dass er nicht die ganze Verantwortung für den Kranken übernehmen möchte, sondern an einer Teilung der Verantwortung zwischen Arzt und Patient interessiert ist. Ein solches partnerschaftliches Verhalten ist auch für den weiteren Verlauf der gesamten Erkrankung von Bedeutung; dem Patienten wird nämlich klargemacht, dass er selbst Verantwortung tragen muss und der Arzt nicht alles auf sich nehmen kann.


Merke
Auch wenn die Beschwerden, die der Patient schildert, ganz so in Erscheinung treten, als wären sie rein funktionell, müssen dennoch die betroffenen Organe oder Systeme »lege artis« untersucht werden. In der Regel fällt die örtliche Routine negativ aus.

Besondere Aufmerksamkeit sollte der Arzt walten lassen, wenn ihm eher untypische oder eher uncharakteristische Symptome einzeln oder in Kombination begegnen: So sollte bei der Trias

  • untypisches Alter,
  • untypische Lokalisation,
  • untypische Morphologie

beispielsweise eine Borreliose oder eine Human-immunodeficiency-virus-(HIV-)Infektion bedacht werden.

Ein Zuviel an organbezogener Diagnostik kann »psychovegetative Syndrome« verstärken oder prolongieren. Dies ist ebenso möglich bei wiederholten Untersuchungen trotz normaler Befunde, oder wenn Leidensdruck und Ängste des Patienten verkannt werden, aber auch, wenn funktionelle Störungen nicht ernst genommen oder abgewertet werden, ebenso wie bei ungezielten Behandlungen, insbesondere in Form unüberlegter Pharmakotherapie (Krück et al. 1987).

 

Tabula diagnostica

Der damalige Landarzt Robert N.Braun wurde 1957 vom Vorstand der II. Wiener Medizinischen Universitätsklinik eingeladen, ein Seminar zum Thema Allgemeinmedizin abzuhalten. Dafür hatte Braun anläßlich eines Hausbesuches bei einer Patientin sein eigenes Vorgehen auf Tonband aufgezeichnet. Die Analyse des Mitschnitts ergab: Die Beratung war keineswegs vorbildlich, sie zeigte eine ziemlich verworrene Befragung und Untersuchung in diesem allerdings sehr kompliziert gelagerten Fall.

Um seine nicht zufriedenstellende Vorgehensweise im Seminar demonstrieren zu können, entwarf Braun ein Blatt, mit dessen Hilfe Beschwerden, Symptome und Krankheitszeichen grafisch nebeneinander gestellt und verfolgt werden konnten; damit ließ sich der Einzelfall übersichtlich präsentieren. Die Tabula diagnostica 
- Checkliste Nr.67 "für die allgemeinmedizinische Diagnostik bei einer Vielzahl uncharakteristischer allgemeiner und/ oder lokaler Beschwerden und Krankheitszeichen"
war geboren und leitete die Entwicklung der Diagnostischen Programme ein (Mader und Brückner 2019). 

Die Erstveröffentlichung der Tabula diagnostica als "Ein einfacher Behelf zur Führung diagnostisch schwieriger Fälle in der Allgemeinmedizin" erfolgte 1962 in der "Therapiewoche" (Braun 1962).  Die Urfassung der Tabula diagnostica (Programm Nr. 67) war zweidimensional und für einen längeren Beobachtungszeitraum angelegt (Abb. 1); auf diese Weise ließen sich die einzelnen Symptome durch einfache Striche auch in ihrer zeitlichen Dimension (Tage/ Wochen/ Monate) oder in ihrer Intensität (z.B. Fieberverlaufskurve) darstellen (Abb. 2).

Nach einer Reihe von Entwicklungsphasen wurde sie auf dem ersten Praktikerkongress der Arbeitsgemeinschaft für praktisch angewandte Medizin am 27.9.1959 erstmals der medizinischen Öffentlichkeit vorgestellt. 43 Jahre später erfolgte die Neubearbeitung durch Frank H. Mader in Form einer einheitlichen Oberfläche im Hochformat mit den senkrechten Rubriken "Subjektiv" und "Objektiv" (Mader 2003).

Die Checkliste Nr. 67 "Tabula diagnostica" ist das erste wissenschaftlich erarbeitete, spezifisch allgemeinmedizinische Werkzeug (Mader u.Brückner 2019).

Dieses Keine-Ahnung-Programm ist gedacht für die allgemeinmedizinische Diagnostik bei einer Vielzahl uncharakteristischer allgemeiner und/oder lokaler Beschwerden, also für die völlig unklare Symptomatik. Sämtliche Items innerhalb der Rubriken »Subjektiv« und »Objektiv« verstehen sich als Angebot in einem »Menü« von prinzipiell gleichrangigen Überlegungen, dessen »Speisefolge« durchaus »nach Gusto« eingenommen, also abgearbeitet werden kann (Braun u. Mader 2005).


Abb.1.: Urform einer unbeschriebenen Tabula diagnostica (Braun 1962)
Abb.1.: Urform einer unbeschriebenen Tabula diagnostica (Braun 1962)
Abb.2.: Tabula diagnostica bei einer hochbetagten Patientin (Einzelheiten im Fallbeispiel
Abb.2.: Tabula diagnostica bei einer hochbetagten Patientin (Einzelheiten im Fallbeispiel "Kasuistik 1.10-3" unten)

Fallbeispiel

Kasuistik 1.10-1: Ausschlag: Hautarzt, Hausarzt und Uniklinik rätseln

Eine 70-jährige Patientin suchte mich auf, weil sie sich nicht wohl fühlte. Fast nebenbei erwähnte sie auch, dass sie von einem Ausschlag am ganzen Körper geplagt sei; sie sei aber ohnehin in hautfachärztlicher Behandlung. Der Facharzt meinte, es sei ein hartnäckiges Ekzem.

Ich war mit dieser Klassifizierung nicht einverstanden. Nach der programmierten Beratung mit der Checkliste Nr. 48 (“Ausschlag-Programm für die allgemeinmedizinische Diagnostik bei ausgedehnter uncharakteristischer Dermatose”) hatte ich freilich auch keine Klarheit, welche Krankheit vorliegen könnte. Die Effloreszenzen erinnerten mich an die Lehrbuchbilder von einem Pemphigoid, obwohl ich selbst noch nie ein solches gesehen hatte.

Immerhin erschien mir die Erkrankung ernst genug, dass ich die Patientin sofort an die Universitäts-Hautklinik zur Abklärung schickte. Trotz Biopsie und immunologischen Spezialanalysen war die Diagnostik nicht einfach. Nachdem die Erkrankung vorerst als Bullöses Pemphigoid, als lineare IgA-Dermatose bezeichnet wurde, ist man sich mittlerweile relativ sicher, dass es sich um eine Epidermolysis bullosa acquisita handelt. Die Therapie ist allerdings weiter schwierig.

Stichwörter

·         Generalisierter Ausschlag.

·         Ekzem.

·         Bullöses Pemphigoid.

·         Epidermolysis bullosa acquisita.

·         Checkliste 48 (“Ausschlag-Programm”).

Kasuistik 1.10-2: Angst, es könnte etwas mit dem Herzen sein

Der 63-jährige, übergewichtige, pensionierte Eisenbahner ist mir seit Jahren gut bekannt, wenngleich die Compliance bezüglich einer antihypertensiven Therapie sehr zu wünschen übrig lässt. Obwohl er – wie übrigens seine Frau auch – ein ängstlicher, fast neurotischer Patient ist, sehe ich ihn nur ein paar Mal im Jahr. Nun kommt er nach Monaten wieder einmal in die Sprechstunde und klagt über Druckgefühl in der Herzgegend. Er und seine Familie haben Angst, es könnte etwas mit dem Herzen sein. Vor 3 Jahren veranlasste ich wegen ähnlicher Beschwerden eine kardiale Abklärung, die außer den bekannten Risikofaktoren keinen konkreten Verdacht auf eine koronare Herzkrankheit ergeben hatte.

Auf diese alten negativen Befunde will ich mich nun nicht verlassen, und obwohl der Patient nicht wirklich ernsthaft erkrankt aussieht, verwende ich zur Sicherheit das Herzschmerz-Programm Nr. 26. Die programmierte Erhebung konnte eine KHK nicht ausschließen, ebenso das EKG nicht, aber unmittelbar besorgniserregend waren beide nicht. Durch die ausführliche Befragung konnte sich der Patient ausreichend Luft machen, was die starke psychische Belastung durch einen gerichtlichen Streit mit dem Nachbarn über Grundstücksgrenzen betraf. Wir vereinbarten eine Laborkontrolle in den nächsten Tagen, die Werte interessierten den Patienten. Ich versuchte ihn zu motivieren, die Medikamente für den Blutdruck und auch den Thrombozytenaggregationshemmer zu nehmen. Die von mir vorgeschlagene Ergometrie und Echokardiographie hat er bis jetzt nicht wahrgenommen.

Stichwörter

·         Behandlungspflichtige Hypertonie, Druckgefühl in der Herzgegend

·         Mangelhafte Compliance

·         Checkliste Nr. 26 (Herzschmerz-Programm)

·         Neu: Starke psychische Belastung

Kommentar:

Für den Brustbereich stehen neben der Checkliste Nr. 26 ”Uncharakteristischer Schmerz in der Herzregion/Präkordialregion” noch verschiedene andere Programme zur Auswahl (Nrn. 6, 7, 23, 27, 28, 30 und 32).

Wenn nun bereits bei lehrbuchmäßig präsentierten Beschwerden die Unterschiede im Vorgehen beträchtlich sind, wie sehr dann erst bei uncharakteristischen Angaben! Der Fall der Kollegin hat gezeigt, dass sie bei Verwendung der Checkliste Nr. 26 keine der wichtigen Fragen vergessen hatte und darüber hinaus sofort über eine korrekte Dokumentation verfügen konnte.

Kasuistik 1.10-3: Tabula diagnostica:

R.N.Braun berichtet aus den 1960-er Jahren eine Krankengeschichte von einer 72-jährigen Patientin: "Diese Frau hatte ich (ohne graphische Aufzeichungen) 3 Monate vor der Anlage einer Tabula diagnostica unter dem Bild eines Myokardinfarktes geführt. Die Tafel legte ich gelegentlich einer Berufung wegen Husten, Fieber und Atemnot an (Abbildung 2). Damals fand ich nichts weiter und gab Salicyl sowie einen Hustensaft. Das Fieber und der Husten besserten sich. Als ich 3 Wochen später gerufen wurde, war die Frau noch gar nicht wieder aufgestanden, wenn man vom Aufstehen zu den Mahlzeiten absieht. Sie bot Stauungsorgane und wurde digitalisiert. 3 Wochen danach traten wieder heftige Stenokardien auf, sie wurde schwächer und verlor schließlich durch einen apoplektischen Insult das Bewußtsein. Ohne wieder erwacht zu sein, verschied sie am übernächsten Tag."
Braun kommentiert: "Wie sich aus der Abbildung ergibt, eignen sich die Tafeln solcherart auch für langfristige Beobachtungen aus der Praxis. Mit ihrer Hilfe scheint es damit zugleich möglich, das zu studieren, was man heute vielfach als 'Naturgeschichte der Krankheiten' zu bezeichnen pflegt" (Braun 1962).

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