Mader : Fakten - Fälle - Fotos®
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15.1.8 Medikationsmanagement und Medikationsplan

Zusatzinfo

Multimorbidität

Multimorbidität ist ein klassisches Alterssyndrom, d.h. das Vorkommen verschiedener Krankheitsbilder bei einer Person fortgeschrittenen Alters. Gerade ältere Menschen leiden häufig an mehreren chronischen Krankheiten auf einmal. In der Regel sind es bei den über 70- jährigen 3 bis 9 Krankheiten gleichzeitig. Am häufigsten betroffen sind:

  • das Herz-Kreislauf-System,
  • die Atmungsorgane,
  • der Bewegungs- und Stützapparat
  • das Stoffwechselsystem.

Es lassen sich zwei Formen von Multimorbidität unterscheiden :

  • Bei der unabhängigen Multimorbidität gibt es keinen wirklich kausalen Zusammenhang zwischen den Krankheiten. Leidet ein Patient z.B. unter Rheumatismus, Gallensteinen und grünem Star, so beeinflussen sich diese Krankheiten nicht gegenseitig.
  • Im Gegensatz dazu ist eine Kombination von Diabetes, Herz-Kreislauf-Schwäche und Bluthochdruck eine abhängige Multimorbidität. Hier liegt eine Wechselwirkung zwischen den Krankheiten vor, d.h. ein bestimmtes Symptom begünstigt ein anderes oder hat es gar hervorgerufen.

https://pflegewelt.axa.de/Krankheitsbilder/Multimorbiditaet/Multimorbiditaet-Formen


In einer niederländischen Studie in Hausarztpraxen betrug die Prävalenz von Multimorbidität (definiert als gleichzeitig 2 oder mehrere chronische Krankheiten bei Männern bis zum 19. Lebensjahr 11 % und bei 80-jährigen Männern 74 %. Bei Frauen der gleichen Altersgruppe lag die Prävalenzbei 9 % bzw. 80 %. 

Für die Betroffenen resultiert hieraus ein hohes Risiko, auftretende Fehlfunktionen von Organsystemen nicht mehr kompensieren zu können. Damit sind Einbußen an unabhängiger Lebensführung, Selbstbestimmung und Lebensqualität verbunden, außerdem ergibt sich häufig ein umfassender Behandlungsbedarf. 

Die Versorgung von multimorbide Patienten ist ein wesentliches Charakteristikum allgemeinärztlicher Berufsausübung. Joachim Szecsenyi berichtete von einer 79-jährigen multimorbiden Frau, die in einer US-amerikanischen Studie untersucht worden war. Sie litt unter anderem an koronarer Herzkrankheit, Osteoporose, Hypertonie und chronisch obstruktiver Lungenerkrankung. „Hätte man diese Frau leitliniengetreu behandelt, hätte sie 12 verschiedene Arzneimittel nehmen und ihre Ernährung in 8 Bereichen auf die Therapie abstimmen müssen“, sagte Szecsenyi. Das sei aber für den Arzt und für den Patienten unmöglich. Deshalb müsse man bei multimorbiden Patienten Prioritäten setzen. 
http://www.aerzteblatt.de/archiv/125536

Eine Leitlinie Multimorbidität ist für Ende 2016 angemeldet.
http://www.awmf.org/leitlinien/detail/anmeldung/1/ll/053-047.html


Der Berufstheoretiker und Allgemeinarzt Prof. Dr. Robert N. Braun lehnt den Begriff "Multimorbidität" als "sprachliche Missgeburt" ab. Zwar wisse man, was gemeint sei, und ebenso klar sei auch, dass Morbidität das Maß für die Häufigkeit von Krankheit (d.h. die in einem bestimmten Zeitraum gezählten Fälle bezogen auf die Gesamtbevölkerung) sei. "Das nun mit 'multi' zu verknüpfen, um auszudrücken, dass ein Patient mit mehreren Problemen kommt oder an mehreren Leiden laboriert, dazu gehört schon eine tüchtige Portion Oberflächlichkeit." 
Braun RN (1988) Wissenschaftliches Arbeiten in der Allgemeinmedizin. Eine Einführung in die eigenständige Forschungsmethodik. Springer, Heidelberg
 


Berliner Altersstudie

Die Berliner Altersstudie ist eine multidisziplinäre Untersuchung alter Menschen im Alter von 70 bis über 100, die im ehemaligen Westteil Berlins lebten. In der Hauptstudie (1990–1993) wurde eine Kernstichprobe (siehe Stichproben) von 516 Personen in 14 Sitzungen hinsichtlich ihrer geistigen und körperlichen Gesundheit, ihrer intellektuellen Leistungsfähigkeit und psychischen Befindlichkeit sowie ihrer sozialen und ökonomischen Situation untersucht. Seitdem ist die Studie als Längsschnittstudie weitergeführt worden, indem überlebende Teilnehmer siebenmal nachuntersucht wurden.
https://www.base-berlin.mpg.de/de/projektinformation/publikationen/base-monografie


Arzneimittelmanagement

Ausführlich mit der "Arzneimittelvorgung älterer Patienten" befasst sich die Gruppe um Prof. Dr. Petra Thürmann im Versorgungsreport 2012
http://www.wido.de/fileadmin/wido/downloads/pdf_versorgungsanalysen/versorgungs-report/wido_ver_vr2012_beitrag7_0816.pdf


Dr.Frank Verheyen hob auf dem deutschen Kongress Versorgungsforschung 2013 in Berlin das "Arzneimittelmanagement als Bestandteil bedarfsgerechter Therapie" hervor
https://www.tk.de/centaurus/servlet/contentblob/612200/Datei/116010/Verheyen-Vortrag-Arzneimittelmanagement-als-Bestandteil-bedarfsgerechter-Therapie-2013.pdf

Prof.Dr. Marion Schaefer, Institut für Klinische Pharmazie der Charite, Berlin, beleuchtet in der Deutschen ApothekerZeitung 2016 das "Medikationsmanagement zwischen Anspruch und Wirklichkeit"
https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/daz-az/2013/daz-37-2013/medikationsmanagement

 

Multimedikation

DEGAM-S 2k-LL "Hausärztliche Leitlinie Multimedikation" von 2014
http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/053-043.htmll
 

Multimedikation nach Klinikentlassung

Einen durchaus nicht seltenen Praxisfall mit der Verordnung von 17 1/2 Tabletten täglich schildert der Allgemeinarzt und Lehrbeauftragte für Allgemeinmedizin Prof. Dr. med. Reinhold Klein in einer plakativ aufgearbeiteten Kasuistik in der Zeitschrift Der Allgemeinarzt (2017).
https://www.allgemeinarzt-online.de/a/fall-nach-reha-entlassung-tabletten-taeglich-1837594


Polypharmazie

Einen fulminanten Vortrag hielt James McCormack, Professor für Pharmakologie an der British Columbia University in Vancouver, Canada, als Keynote Lecture im Rahmen des 50. DEGAM- Kongresses am 30. Sept.2016 in Frankfurt zum Thema (deutsche Übersetzung) "Mehr oder weniger - Ein rationaler, evidenz- basierter Ansatz der Polypharmazie" LINK


Medikationsplan

Mit dem Hintergrund, der zur gesetzlichen Einführung eines Medikationsplans führte, befasst sich H.E. Krüger-Brand  im Deutschen Ärzteblatt 2015 unter dem Titel: "Arzneimitteltherapie: Medikamentenplan für mehr Sicherheit"
http://www.aerzteblatt.de/archiv/171748


Nierenfunktion und Arzneimitteldosierung bei Niereninsuffizienz im Alter

Vergleiche dazu Infos und Links im Kap. 15.3.1 "Besonderheiten im Alter" in Mader: Fakten-Fälle-Fotos®


Fallbeispiel

Kasuistik 15.1.8-1: "78-Jährige kommt mit 10 Medikamenten aus der Klinik entlassen"

Der Apotheker und Pharmazierat Dr. Günter Beck stellt in seinem Buch "Arzneimittelmanagement im Alter. Probleme- Strategien- Lösungen" den Fall einer 78-jährigen Frau vor, die mit 10 verschiedenen Medikamenten entlassen worden ist und deren "Speisezettel" jetzt der Hausarzt kritisch hinterfragen und ggf. kürzen muss:
 

168 cm, 73 kg; nach Sturz und starken Rückenschmerzen einige Tage stationär. Bisher nur Hypertonie bekannt.

Indikation

Medikation

Dosierung

Rückenschmerzen       

Tilidin 100/8 ret

1 – 0 – 1 – 0

Rückenschmerzen

Novaminsulfon gtt.

20 – 20 – 20 – 20

Hypertonie

Ramipril 5

1 – 0 – 1 – 0

Hypertonie

Torasemid 5

1 – 0 – 0 – 0

Hypertonie, Ödeme im Knöchelbereich

Spironolacton 100

1 – 0 – 0 – 0

Obstipation

Laxoberal gtt

0 – 0 – 0 – 10

Hypothyreose

L-Thyroxin 175

1 – 0 – 0 – 0

Darmsanierung nach Diarrhoe

Perenterol forte

0 – 0 – 1 – 0

Unruhe vor dem Schlafen

Melperon 25

0 – 0 – 0 – 1

Unruhe vor dem Schlafen

Haloperidol gtt.

0 – 20 – 0 – 20

Medikationsplan bei Klinikentlassung einer 78-Jährigen

 

"Praxisrelevante Fragestellungen zur Multimedikation geriatrischer Patienten ergeben sich gerade auch im Zusammenhang mit der Entlassmedikation nach Krankenhausaufenthalten:

Was muss übernommen und weitergeführt werden?

Was muss ergänzt werden?

Auf welche Medikation kann langfristig verzichtet werden?

Nach Krankenhausentlassung ist die Polymedikation mit 6 Indikationen und 10 Arzneistoffen zu hinterfragen:

Schmerzmittel: Schmerzmedikation unumgänglich. Tilidin ist in der Geriatrie jedoch nicht Mittel der ersten Wahl (oft Schwindel als UAW) →Sturzrisiko. Umstellung auf retardiertes Hydromorphon zu empfehlen. In der Geriatrie gilt für die Dosierung von Analgetika immer der Leitsatz:„Start low, go slow.“ Die UAWs einer Opioid-Schmerztherapie müssen mit dem Patienten kommuniziert werden.

Therapie der Obstipation: Ob Laxoberal als Laxans notwendig ist, muss abgewartet werden. Oft verharren derartige Wirkstoffe ungeprüft im Medikationsplan, was beweist, dass Arzt oder Apotheker diesen immer wieder hinterfragen müssen.

Darmsanierung nach Diarrhoe: Gleiches gilt für Perenterol. Sofern keine Diarrhoe vorliegt, besteht auch keine Notwendigkeit mehr für das Präparat, obwohl nicht mit UAWs zu rechnen ist.

Therapie der Hypertonie: Die langfristige Behandlung der Hypertonie steht außer Zweifel. Deswegen hatte der Kliniker Ramipril, Torasemid und Spironolacton empfohlen. Da die Patientin jedoch bei Entlassung keine Ödeme zeigt und da vor allem eine Interaktion zwischen Ramipril und Spironolacton möglich ist, sollte Spironolacton versuchsweise abgesetzt werden. Bei gleichzeitiger Gabe von Ramipril und Spironolacton kann es zu schweren Hyperkaliämien kommen (beide Wirkstoffe sind kaliumretinierend).

Therapie der Hypothyreose: L-Thyroxin bleibt bei diagnostizierter Hypothyreose weiterhin notwendig, allerdings erscheinen 175 µg als recht hoch und sollten durch weitere Bestimmung der Schilddrüsenwerte abgeklärt werden. Die Patientin erhält auch 2 Medikamente gegen Unruhezustände (L-Thyroxin-Überdosierung? Unzureichend behandelte Schmerzzustände?).

 

Therapie der Unruhezustände: Es wäre ein Versuch möglich, zumindest auf eines der beiden Neuroleptika (Haloperidol, Melperon) zu verzichten, auf Dauer vielleicht sogar auf beide, wenn die genaue Dosierung des Schilddrüsenhormons geklärt ist und die Schmerztherapie richtig greift.

 

Nach klinischem Bild, Labor und Kommunikation mit der Patientin (auch mit Zugehörigen) ergibt sich ein neuer Medikationsplan:

Indikation

Medikation

Dosierung

Rückenschmerzen

Hydromorphon 4 ret.

1 – 0 – 1 – 0

Rückenschmerzen

Metamizol gtt.

20 – 20 – 20 – 20

Hypertonie

Ramipril 5

1 – 0 – 1 – 0

Hypertonie

Torasemid 5

1 – 0 – 0 – 0

Hypothyreose

L-Thyroxin 125

1 – 0 – 0 – 0

Unruhe vor dem Schlafen

Melperon 25

0 – 0 – 0 – 1

 

Idealerweise schrumpft der Medikationsplan jetzt auf 6 Wirkstoffe zusammen. Im Rahmen des Monitorings muss durch den Hausarzt auch das Arzneimanagement in folgenden Parametern fortgeführt werden:

Kontrolle des Blutdrucks;

Kontrolle Ödembildung;

Kontrolle Schmerzintensität, Einbindung der Zugehörigen, Überwachung Stuhlfrequenz;

Kontrolle Schilddrüsenwerte;

Kontrolle Schlafdauer.

 

Wünschenswert für eine Optimierung des Arzneimanagements im Alter wäre eine engere Verzahnung der Beteiligten bei Krankenhausentlassungen und der damit verbundenen Medikation des Patienten durch Hausarzt und Apotheke vor Ort. Der Praxisalltag zeigt allerdings, dass Patienten oft am Freitagnachmittag aus dem Krankenhaus nach Hause kommen und dann eine Medikation für das anstehende Wochenende benötigen. LINK

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