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15.3.3 Arzneimittel im Alter

Zusatzinfo

Beers-Liste

Die Pioniere auf dem Gebiet der Bewertung von Pharmaka in der Geriatrie und beim Versuch, ein geeignetes Instrument zur Optimierung der Arzneimittelversorgung des älteren Patienten zu finden, waren die Forscher um Mark Beers (Univ. Georgia, USA), die 1991 die oft zitierte Beers-Liste publizierten, welche 1997, 2003 und 2012 durch die AGS aktualisiert wurde:

Erster Teil: Auflistung von Wirkstoffen, die grundsätzlich bei Patienten > 65 Jahren vermieden werden sollten (bei dieser Gruppe verstärkt UAWs oder bessere Alternativen).

Zweiter Teil: Arzneistoffe, die beim älteren Patienten mit bestimmten Erkrankungen vermieden werden sollten.

Dritter Teil: Wirkstoffe, die bei älteren Patienten nur mit großer Vorsicht angewendet werden sollten.

Vierter Teil: Interaktionsliste.

Fünfter Teil: Wirkstoffe, die bei Verschlechterung der Nierenfunktion vermieden werden sollten.

 

Die Liste wurde nach der sog. Delphi-Methode erstellt, d. h. Auswahl der gelisteten Wirkstoffe durch Befragung von Experten mit abschließender gemeinsamer Konferenz. Die Resonanz auf die Beers-Liste in deutschen Fachkreisen war eher gering; wesentlicher Nachteil: Die Liste ist nicht an die Wirkstoffe des deutschen Arzneimittelmarktes angepasst. Daher gab es schon bald übersetzte und adaptierte Beers-Listen, wie z. B. die 2007 veröffentlichte Übersicht von Ch. Kloft, Univ. Halle.

 

Priscus-Liste

Eine echte Weiterentwicklung der Beers-Liste ist die Priscus-Liste von 2010 (Federführung: P. Thürmann, Witten/Herdecke; http://www.priscus.net/). Diese Liste nennt in der einen Spalte 83 Arzneistoffe und führt in 4 weiteren Spalten auf:

Begründung, warum der Wirkstoff eine potenziell inadäquate Medikation für ältere Menschen darstellt.

Therapie-Alternativen.

Maßnahmen, falls der Arzneistoff trotzdem verwendet werden soll.

Komorbiditäten, bei denen auf den Arzneistoff möglichst verzichtet werden soll.

Auch die Priscus-Liste wurde nach der Delphi-Methode erstellt; dadurch erscheinen bestimmte Arzneistoffe (z. B. Diclofenac) nicht auf der Liste, obwohl man dies erwartet. Diclofenac gehört immerhin zu den 48 Wirkstoffen, für die die Experten keine eindeutige Entscheidung treffen konnten.

 

FORTA-Klassifikation

M. Wehling und seine Mitarbeiter stellten 2011 das FORTA-Klassifikationssystem vor (FORTA = Fit fOR The Aged). Es enthält im Gegensatz zu Beers- und Priscus-Liste sowohl Negativbewertungen wie auch Positivbewertungen von Arzneistoffen, geht jedoch mit seiner Einteilung nach den Kategorien A bis D wesentlich differenzierter vor:

Kategorie A: Arzneistoffe mit eindeutig positiver Nutzen-Risiko-Bewertung.

Kategorie B: Arzneistoffe, deren Wirksamkeit und Sicherheit nachgewiesen, aber mit Einschränkungen belegt ist

Kategorie C: Arzneistoffe, bei denen ein ungünstiges Nutzen-Risiko-Verhältnis für ältere Patienten vorliegt und die bei einer Übermedikation als Erstes weggelassen werden sollten. 

Kategorie D: Substanzen, die bei älteren Patienten fast immer vermieden werden sollten.

In einer ersten Studie über vorläufige klinische Erfahrungen mit der FORTA-Klassifikation zeigt sich, dass das Konzept praxistauglich ist.

Insbesondere scheint nicht nur die Überversorgung sowie das Auftreten von Interaktionen, sondern auch eine Unterversorgung von Patienten bei Vorliegen einer eindeutigen Indikation für eine Pharmakotherapie verbessert zu werden. Die Anzahl der Wirkstoffe aus den Kategorien A und B nahm zu, während Wirkstoffe aus Kategorie D tendenziell seltener eingesetzt wurden.


Therapielisten

Beers- Liste
http://www.bcp.fu-berlin.de/pharmazie/klinische_pharmazie/arbeitsgruppe_kloft/materialien/Beers-Liste.pdf
https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/daz-az/2015/daz-43-2015/das-update-2015-der-beers-liste

PRISCUS- Liste
http://medikamente-im-alter.de/priscus.html
http://priscus.net/download/PRISCUS-Liste_PRISCUS-TP3_2011.pdf

Forta- Liste
http://www.umm.uni-heidelberg.de/ag/forta/FORTA_Liste_2015_deutsche_Version.pdf

 

 

Fazit für den Praxisalltag

Die drei Arzneimittellisten und ihre ­Therapiekonzepte können eine sinnvolle Entscheidungshilfe für den Hausarzt darstellen.

 

Merke:

Die Behandlung älterer Patienten allein auf der Grundlage von Leitlinien ist nicht möglich, jeder Fall muss individuell geprüft, entschieden und beobachtet werden. Und auch keine noch so ausführliche Liste kann dem Hausarzt diese Entscheidung abnehmen. Alle diese Listen und Konzepte müssen weiterentwickelt werden, sie bedürfen der Validierung und Prüfung auf Evidenz. Gelingt dies, liegen hier durchaus Chancen für die Verbesserung der Arzneimitteltherapie des älteren Patienten, schreibt der Apotheker und Pharmazierat Dr.Günter Beck in seinem Buch "Arzneimanagement im Alter" (2016) (Bd.7 der Reihe: "Praktische Geriatrie. Der ältere Patient beim Hausarzt")  
Das Inhaltsverzeichnis finden Sie hier.


Cytochrom- P450- System (CYP)

1958 entdeckten Garfinkel und Klingenberg unabhängig voneinander ein CO-bindendes Pigment in Lebermi­krosomen, das später den Namen Cytochrom P450 erhielt. Enzyme der Cytochrom-P450-Familie spielen bei der Metabolisierung von körpereigenen Stoffen, aber auch von körperfremden pharmazeutischen Substanzen eine wichtige Rolle. Die Wirksamkeit und Verträglichkeit zahlreicher Medikamente hängt daher ganz entscheidend von ihrer Funktionsfähigkeit ab.

Cytochrome P450 (CYP) kommen ubiquitär vor, sind also bei praktisch allen lebenden Organismen wie Tieren, Pflanzen, Pilzen, Bakterien nachweisbar. Beim Menschen sind CYP vor allem in der Leber zu finden, aber auch im Darm, den Nieren und der Lunge, bislang wurden 60 verschiedene Cytochrome P450 gefunden. Die Einteilung dieser Iso­enzyme in Familien und Unterfamilien erfolgt anhand der jeweiligen Ähnlichkeiten in der Aminosäuresequenz, wobei sich die Bezeichnung des einzelnen Enzyms an einer spezifischen Nomenklatur orientiert: Auf das Gensymbol CYP folgt eine Zahl für die Familie, ein Buchstabe für die Unterfamilie und eine Nummer für das einzelne Enzym. CYP3A4, über das etwa die Hälfte aller Arzneimittelwirkstoffe metabolisiert wird, gehört beispielsweise zur Familie 3, zur Unterfamilie A und ist das 4. Enzym dieser Unterfamilie. Weitere für den Abbau von Medikamenten wichtige Cytochrome P450 sind CYP2D6, CYP2C9CYP2C19 und CYP1A2. Über das Cytochrom-P450-System werden zahlreiche Medikamente metabolisiert (Tabelle 1).

Quelle : Oetzel St (2012) Enzymfamilie mit zentraler Bedeutung
http://www.pharmazeutische-zeitung.de/?id=40909

Genetische Veränderungen in den Enzymen des CYP- Systems bestimmen den individuellen Metabolisierungstyp und beeinflussen die Wirksamkeit und Verträglichkeit von Arzneimitteln beim individuellen Patienten und damit seine Prognose. Ein Schlüsselrolle für den Abbau vieler Antidepressiva sind CYP2C19 sowie CYP2D6 (Tabelle 2). Im Praxisalltag kommt es daher zu Therapiebeginn immer wieder zu Über- oder Unterdosierungen bis hin zur völligen Wirkungslosigkeit bzw. Therapieresistenz, schreibt in einem CME-Beitrag "Gendiagnostik für eine individualisierte Therapie" (2015) der Neurologe und Psychiater Dr.med. Alexander Foit in der Zeitschrift Der Allgemeinarzt.
http://www.allgemeinarzt-online.de/a/individualisierte-therapie-1703284

 

Tabelle 1: Auswahl von Wirkstoffen, die als Substrate der Enzyme CYP3A4, CYP2D6, CYP2C9 oder CYP2C19 dienen

CYP3A4

CYP2D6

CYP2C9

CYP2C19

Antihistaminika (z.B. Astemizol, Terfenadin) 

Antiarrhythmika (z.B. Flecainid) 

NSAR und Coxibe (z.B. Diclofenac, Ibuprofen, Celecoxib, Meloxicam) 

Protonenpumpenhemmer (Lansoprazol, Omeprazol, Pantoprazol, Rabeprazol) 

Steroide (z.B. Hydrocortison, Estradiol, Testosteron) 

Antidepressiva (z.B. Amitriptylin, Clomipramin, Fluoxetin, Venlafaxin) 

Orale Antidiabetika (z.B. Glibenclamid, Tolbutamid) 

Antiepileptika (z.B. Diazepam, Phenytoin) 

Benzodiazepine (z.B. Diazepam) 

Antipsychotika (z.B. Haloperidol, Perphenazin, Risperidon) 

Angiotensin-II-Blocker (Losartan, Irbesartan) 

Antidepressiva (z.B. Amitriptylin, Citalopram, Clomipramin) 

HIV-Medikamente (z.B. Indinavir, Ritonavir) 

Betarezeptorenblocker (z.B. Carvedilol, Metoprolol, Propranolol) 

weitere Wirkstoffe (z.B. Amitriptylin, Fluvastatin, Tamoxifen, Warfarin) 

Malariamittel (Proguanil) 

Immunmodulatoren (z.B. Tacrolimus, Ciclosporin) 

Opioide (z.B. Codein, Oxycodon, Dextromethorphan, Tramadol) 

dito 

weitere Wirkstoffe (z.B. Cyclophosphamid, Indometacin, Nelfinavir, Progesteron, Propranolol, Moclobemid) 

Calciumkanalblocker (z.B. Amlodipin, Verapamil) 

weitere Wirkstoffe (z.B. Chlorpromazin, Metoclopramid, Ondansetron, Tamoxifen) 

 

dito 

Makrolidantibiotika (Clarithromycin, Erithromycin) 

dito 

 

 

Statine (z.B. Simvastatin, Lovastatin, Atorvastatin) 

 

 

 

Quelle: Flockhart DA. Drug Interactions: Cytochrome P450 Drug Interaction Table. Indiana University School of Medicine (2007)

 

Tabelle 2: Klinisch relevante Substrate von CYP2D6 (Foit 2015)

Klinisch relevante Substrate von CYP2D6 (nach [23, 4])

Antiarrhythmika

Flecainid, Mexiletin, Spartein

Antidepressiva

Amitriptylin, Clomipramin, Doxepin, Fluoxetin, Fluvoxamin, Imipramin, Maprotilin, Mirtazapin, Nortriptylin, Opipramol, Trimipramin und Venlafaxin

Betablocker

Bufuralol, Carvedilol, Metoprolol, Propafenon, Propranolol, Timolol

Neuroleptika

Apriprazol, Risperidon

Andere

Amphetamin (Ecstasy!), Codein, Debrisoquin, Donepezil, Oxycodon, Tamoxifen, Tramadol


 

CYP- Hemmer

Es sind zahlreiche Wirkstoffe bekannt, die Cytochrome P450 hemmen können. Zu den wirksamsten Inhibitoren von CYP3A4 gehören beispielsweise Azol-Antimykotika wie Ketoconazol, HIV-Proteasehemmer, etwa Indinavir oder Nelfinavir, und Makrolidantibio­tika wie Clarithromycin. Aber auch Nahrungsmittel wie Grapefruitsaft können die Enzymaktivität beeinträchtigen. CYP2D6 wird beispielsweise durch die Antidepressiva ParoxetinFluoxetin und Bupropion gehemmt.

 

Schmerztherapie im Alter

In der Zeitschrift Der Allgemeinarzt (2012) schildert die Klin.Pharmakologin Martina Anditsch 3 Fallbeispiele bei Analgetika-Gabe, welche bei geriatrischen Patienten UAWs auslösen können.
http://www.allgemeinarzt-online.de/a/auf-wechselwirkungen-achten-1562716

 

Schmerzbehandlung im Alter

PD Dr.med. Burkhardt, Mannheim, gibt in der Zeitschrift Der Allgemeinarzt (2017) in einem CME-Beitrag einen Überblick über die Behandlung chronischer Schmerzen bei geriatrischen Patienten mit einer Bewertung der betreffenden Medikamente.
http://www.allgemeinarzt-online.de/a/pharmakotherapie-im-alter-1804235


Fallbeispiel

Kasuistik 15.3.3-1: Medikamentenumstellung bei dementer Patientin

Einen "besonderen Fall" berichtet der Gerontopsychiater  Reinhold Waimer in der Zeitschrift Der Allgemeinarzt (2016)

"Eine 62-jährige Patientin, bei der seit 5 Jahren eine präsenile Alzheimer-Demenz bekannt ist, wurde wegen einer seit 3- 4 Wochen zunehmenden Körperneigung nach links stationär aufgenommen. Die Demenz war in den letzten Jahren stark fortgeschritten (Pflegestufe 2), so der Ehemann. Die Medikation von Donepezil (Aricept®, Dosis 10 mg/d), Memantin (Ebixa®, Dosis 10 mg/d), Risperidon (Risperdal®, Dosis 2 mg/d) und Melperon (Melperon-neuraxpharm forte®, Dosis 75 mg/d ) bestand unverändert seit 2,5 Jahren. Häufiger wurde in letzter Zeit Melperon (25 mg) bedarfsweise vom Ehegatten dazugegeben. Bei der körperlichen Untersuchung zeigte die Patientin eine ausgeprägte Rumpfneigung mit leichter axialer Rotation nach links im Sitzen, Stehen und Laufen (Pisa-Syndrom); zudem einen deutlichen Rigor beidseits mit linksseitiger Verstärkung. Psychopathologisch bot sie das Bild eines schweren demenziellen Syndroms mit vollständiger Desorientierung, schweren Wortfindungsstörungen, erheblicher Affektlabilität und -inkontinenz bei zeitweisem impulshaft aggressiven Verhalten. Wegen der Schwere des Syndroms wurden sofort eine Medikamentenumstellung vorgenommen und Risperidon sowie Melperon vollständig abgesetzt. Die antidementive Medikation mit Donepezil und Memantin blieb hingegen unverändert. In zufrieden stabilisiertem Zustand konnte sie schließlich in die häusliche Versorgung des Ehemannes mit ambulanten Hilfen entlassen werden."

Kommentar:

Obwohl jede Wirkstoffkonzentration im Referenzbereich lag, ist die Distorsion des Oberkörpers der Patientin als extrapyramidal motorische Störung (EPMS) durch Risperidon und Melperon zu erklären – als Summeneffekt der Konzentrationen der beiden Wirkstoffe. Dazu zeigte sich eine Medikamenteninteraktion zwischen Risperidon und Melperon, das in höherer Dosierung ab ca. 100 mg als zunehmender Hemmer des Leberenzyms 2D6 wirkt. Risperidon wird überwiegend über 2D6 ausgeschieden. In Kombination kam es zu einer Ausscheidungshemmung von Risperidon mit deutlicher Erhöhung der Blutkonzentration im Verhältnis zur Dosis und des Risperidon/9-Hydroxyrisperidon-Quotienten auf 8, was beweisend für die Interaktion war. Die Antidementiva waren an der Interaktion nicht beteiligt. Dieses Interaktionsbeispiel verdeutlicht, dass man umsichtig mit Psychopharmaka im Alter vorgehen sollte. In diesem Fall hätte man den Ehemann auf die Interaktionsproblematik einer bedarfsweisen Dosiserhöhung hinweisen müssen, ggf. hätte man Risperidon unter Beachtung des Risiko-Nutzen-Prinzips auch noch weiter reduzieren oder sogar absetzen sollen.
http://www.allgemeinarzt-online.de/a/wie-vermeidet-man-nebenwirkungen-1797020

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