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3.3 Nackenschmerzen

Zusatzinfo

Die International Association for a Study of Pains (IASP) beschreibt 1994 Nackenschmerzen in Ermangelung einer international gültigen Definition als Schmerz in dem Gebiet, das nach oben durch die linea nuchalis superior, nach unten durch den ersten Brustwirbel und seitlich durch die schultergelenksnahen Ansätze des M. trapezius begrenzt wird.

Meningismuszeichen

Geprüft wird durch passive Bewegung des Kopfes durch den Untersucher. Ein Meningismus liegt vor, wenn diese Beugung nur unter erhöhtem Widerstand oder gar nicht mehr durchgeführt werden kann.Man spricht dann von Nackensteifigkeit. Weitere zu prüfende Zeichen, die auf eine Meningitis hinweisen und sich schnell hintereinander prüfen lassen,  können sein:

 

Brudzinski-Zeichen 

Dies wird genauso geprüft wie die Nackensteifigkeit. Es ist positiv, wenn der Patient beim Versuch den Kopf passiv zu beugen, die Knie anzieht.

Lasègue- Zeichen  

Der Patient liegt auf dem Rücken. Das gestreckte Bein wird im Hüftgelenk langsam passiv um 90 Grad gebeugt. Das Lasegue-Zeichen ist positiv, wenn der Patient bereits bei 45 Grad Schmerzen angibt. Gleichzeitig kann man mit dieser Untersuchung das

Kernig-Zeichen

auslösen. Hierbei beugt der Patient bei der Beugung des gestreckten Beines auf Grund von Schmerzen das Knie. Alternativ kannn das Kernig-Zeichen auch geprüft werden, indem Knie-und Hüftgelenk gebeugt werden und das Bein gestreckt, wobei der Patient dann Schmerzen angibt.

Bragard-Zeichen

Hierbei werden Schmerzen ausgelöst,wenn bei dem im Hüftgelenk gebeugten Bein der Fuß kräftig dorsalwärts flektiert wird.

 

 

Diagnostik bei Meningitis-Bild

Hier eignet sich neben anderen diagnostischen Möglichkeiten ein positives Kernigzeichen zur Abgrenzung gegen unkomplizierte Nackenschmerzen.

 

Tabelle. Zeichen für einen möglichen AGV bei Nackenschmerzen (Scherer et al. 2006)

  • Anamnestische Hinweise für ein zurückliegendes Trauma
  • Unklares Fieber, insbesondere bei Patienten mit Diabetes mellitus
  • Langzeittherapie mit Kortikosteroiden
  • Unklarer Gewichtsverlust
  • Tumorerkrankungen in der Vorgeschichte
  • Neurologische Zeichen (motorisches Defizit/Paresen; Atrophien im Bereich der Hände; Hyposensibilität und/oder Verlust der Temperaturempfindlichkeit der oberen Extremitäten; Gangstörung; positives Babinski-Zeichen)

Tabelle. Differentialdiagnostik radikulärer HWS-Beschwerden (Scherer et al. 2006)

Nervenwurzel

Kennmuskel

Reflexminderung

Dermatom peripher

C5

Deltoideus

BSR

Unterer Deltoideusbereich

C6

Bizeps,
Brachioradialis

BSR
Radiusperiostreflex

Daumen, Teil Zeigefinger

C7

Thenar, Trizeps,
Pronator teres

TSR

Zeige- und Mittelfinger,
Teil Ringfinger

C8

Hypothenar,
Fingerbeuger

TSR

Kleinfinger,
Teil Ringfinger


Welchen Eindruck macht der Patient?

  • Bei jungen Patienten überwiegen statisch-muskulär bedingte Funktionsstörungen. Nur selten beruhen sie auf strukturellen Veränderungen. Hypermobile junge Frauen neigen zu rezidivierenden segmentalen Blockierungen.
  • Im mittleren Lebensalter sind Funktionsstörungen aufgrund regressiver Veränderungen der Zwischenwirbelstrukturen häufig. Dazu gehören auch Bandscheibenvorfälle, sie sind in der Regel monosegmental.
  • Im höheren Lebensalter überwiegen knöcherne Veränderungen wie Spondylarthrosen, Retrospondylosen und daraus resultierende foraminale Stenosen. Meistens handelt es sich um mehr- oder polysegmentale Veränderungen. Sie verursachen segmentale Funktionsstörungen, aber auch Nervenwurzelreizungen.
  • Patienten mit fixiertem Hohlrundrücken haben oft Nacken-Kopfschmerzen, weil sie zur Kompensation der vermehrten Dorsalkyphose schon in Neutralstellung die HWS überstreckt halten müssen. Dadurch wird die tiefe Nackenmuskulatur fehlbelastet.
  • Auch bei Patienten mit Flachrücken und steil gestellter HWS, meistens Frauen, findet man hochzervikale Funktionsstörungen, aber sie klagen eher über Schmerzen zwischen den Schulterblättern und weniger über Kopfschmerzen. Bei ihnen wird der Schmerz über den M. levator scapulae auf die Schulter projiziert, und sie haben verspannte Mm. rhomboidei.
  • Von der Persönlichkeitsstruktur des Patienten hängt ab, wie er mit seinen Beschwerden umgeht. Dem erfahrenen Hausarzt bleibt eine psychische Überlagerung nicht verborgen, und bei einem eher dissimulierenden Patienten wird er besonders wachsam sein.

(Quelle: Meyer-Holz 2010)


Spurling-Test

Der Untersucher steht hinter dem Patienten, hält den zur Seite geneigten und rotierten Kopf mit einer Hand und staucht mit der anderen (Kompression der Facettengelenke) (Wittke 2008). Dabei wird eine durch Druck auf den Kopf bei seitlich geneigter HWS entstehende ipsilaterale Dysästhesie in einem Dermatom als positiv gewertet (Scherer u. Chenot 2007).


Tabelle.Charakteristika des pseudoradikulären Zervikalsyndroms (Wittke 2008)

 

O’Donoghues-Test

Zur Differenzierung zwischen ligamentären und muskulären Nackenschmerzen dient der O’Donoghues-Test. Hierbei wird der Kopf des Patienten passiv nach beiden Seiten geneigt und anschließend ein isometrischer Widerstandstest durchgeführt. Schmerzen bei der passiven Seitenneigung sprechen für eine ligamentäre Funktionsstörung. Eine Schmerzauslösung beim isometrischen Widerstandstest spricht für muskuläre Ursachen des Zervikalsyndroms. Zusätzlich finden sich dann auch positive Triggerpunkte im Bereich der tonischen Muskulatur (oberer Trapeziusrand, Levator scapulae) (Wittke 2007).


HWS-Distraktionstest

Zur Differenzierung zwischen radikulären und arthroligamentär verursachten Schmerzbildern. Der axiale Zug der HWS in kranialer Richtung führt zu einer segmentalen Entlastung der austretenden Nervenwurzel. Eine Abnahme der radikulären Beschwerden ist ein Hinweis auf eine Irritation der Nervenwurzel, eine Zunahme deutet eher auf eine ligamentärmuskuläre Funktionsstörung der HWS hin (Wittke 2008).


Fallbeispiel

Kasuistik 3.3-1: „Mit der kaputten HWS kann es nicht weitergehen“

Eine 42-jährige Patientin kommt mit Nackenstütze in die Sprechstunde. Auf die Frage, was man für sie tun könne, erwidert sie in vorwurfsvollem Tonfall: „Sehr viel, denn so kann es nicht weiter gehen.“ Auf die Bitte um Präzisierung ihrer Beschwerden und Wünsche schildert die Patientin, seit dem Wochenende wieder ihr „chronisches HWS-Syndrom“ zu haben. Schuld sei die Arbeit in der Firma. Obwohl jeder in der Abteilung von ihrer „kaputten“ Halswirbelsäule wisse und sie auch ein entsprechendes Attest ihres Orthopäden vorgelegt habe, werde darauf keine Rücksicht genommen. Sie wolle jetzt eine „Überweisung zum Röntgen, am besten in die Röhre“. Im weiteren Gespräch äußert die Patientin den Wunsch nach einem stark wirkenden Schmerzmittel und Massagen, die ihr schon früher immer gut geholfen hätten. Die Nackenstütze habe ihr eine Freundin geborgt, nicht ohne ihr den Rat zu geben, endlich einmal „in Kur“ zu gehen. Aus der erlebten Anamnese ist bekannt, dass sie nach einer gescheiterten Ehe aus der benachbarten Großstadt wieder zu ihrer Mutter gezogen ist, früher als Serviererin gearbeitet hat und jetzt als ungelernte Arbeitskraft in einer feinmechanischen Firma tätig ist. Es existieren zahlreiche fachärztliche Berichte (an unterschiedliche Hausarztpraxen), insgesamt ohne wegweisenden Befund. Die von der Patientin erwähnten röntgenologisch nachgewiesenen Schäden werden als mäßiggradige degenerative Veränderungen der unteren HWS beschrieben.

Bei der körperlichen Untersuchung findet sich eine druckdolente nuchale Muskulatur. Bei passiver Kopfrotation in Inklination äußert die Patientin beidseits bei 45° starke Schmerzen. Der Tonus der Schultermuskulatur ist erhöht, die Schultergelenke sind frei beweglich. Die orientierende Prüfung der Hirnnerven sowie der Motorik und Sensibilität der Arme ist unauffällig. Hinweise auf eine Infektionserkrankung oder die Beeinträchtigung des Allgemeinzustands finden sich nicht. Die Frage nach sportlichen Aktivitäten wird mit einem knappen „Nein“ beantwortet.

(Quelle: mod. Scherer u. Niebling 2005)

Stichwörter:

  • Nackenstütze bei chronischem HWS-Syndrom
  • Wunsch nach MRT
  • Sozialer Rückzug, Hilflosigkeit, Gefühl des Missverstanden-Seins
  • Motivierung zur Verhaltensänderung

 

Kommentar:

Auffallend ist die Diskrepanz zwischen dem subjektiven Krankheitsempfinden der Patientin und der objektiven hausärztlichen Problemeinschätzung. Die körperliche Komponente des Schmerzes zeigt sich in einer erhöhten Muskelspannung im Sinne einer physiologischen Überaktivierung. Die subjektive Schmerzinterpretation ist geprägt von einer massiven Überbewertung der körperlichen Missempfindungen und einem wenig belastbaren körperlichen Selbstkonzept. Das Verhalten der Patientin wird beeinflusst von einer Vermeidungshaltung gegenüber auslösenden Situationen, einem spürbaren sozialen Rückzug und einer unangemessenen Inanspruchnahme medizinischer Leistungen. Emotional sind Hilflosigkeit, Verzweiflung, das Gefühl nicht ernst genommen und missverstanden zu werden sowie Resignation zu spüren. Das inadäquate Krankheitsmodell der Patientin und die passive Grundeinstellung werden, abgesehen von den (gut gemeinten) Ratschlägen aus dem Laienumfeld (Kur, Nackenstütze), durch die bisherigen diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen aufrechterhalten. Vordringliche Aufgabe ist die Motivierung der Patientin zur Verhaltensänderung (frühzeitige Aktivierung, Förderung der körperlichen Ausdauer, Erlernen eines häuslichen Übungsprogrammes), eine Veränderung der Einstellung bzw. Befürchtungen hinsichtlich beruflicher und körperlicher Aktivität, die Verbesserung der emotionalen Beeinträchtigung sowie eine begleitende Psychotherapie mit dem Ziel der Schmerzbewältigung und –kontrolle.

Die Erwartungshaltung der Betroffenen fokussiert meistens auf mechanistische Erklärungsansätze, die eine Thematisierung psychosozialer Konflikte kaum zulassen. Umso dringlicher soll abschließend auf die Notwendigkeit eines pragmatischen Umgangs mit Nackenschmerzen hingewiesen werden.

Zusammenfassend lassen sich daher folgende Kernaussagen über Nackenschmerzen treffen:

  • Nackenschmerzen sind nach klaren Kriterien einzuteilen, auf komplizierte Schemata sollte verzichtet werden.
  • Die klinische Untersuchung sollte bei der Diagnostik an erster Stelle stehen.
  • Bildgebende Verfahren sollten streng indikationsbezogen eingesetzt werden.
  • sychosomatische Zusammenhänge und berufliche Konflikte sollten offen thematisiert werden.
  • Die Therapie sollte auf eine frühe Aktivierung und die Förderung der Eigeninitiative hinwirken.

Kasuistik 3.3-2: Gicht und HWS-Syndrom: Was war es wirklich?

Ein 72-jähriger Patient klagt in der Sprechstunde über heftige Schmerzen im Bereich des linken Großzehengrundgelenkes und der Nackenregion. Anamnestisch finden sich ein langjähriger Alkoholabusus mit Leberparenchymschädigung sowie ein mit Sulfonylharnstoffpräparaten behandelter Diabetes mellitus Typ 2. Während der letzten Jahre ist es, vor allem nach alkoholischen Exzessen, wiederholt zu typischen Gichtattacken gekommen. Die danach begonnene medikamentöse Therapie mit Allopurinol wurde vom Patienten jeweils nach wenigen Wochen wieder beendet. Herr S. stellt sich nur selten in der Praxis vor, er neigt zur Dissimulation und wehrt Ratschläge seines Hausarztes und der ihn versorgenden Schwiegertochter in der Regel ab. Die körperliche Untersuchung ergibt den charakteristischen Befund einer Podagra links, der Bereich der unteren Halswirbelsäule ist hochgradig druckempfindlich, die nuchale Muskulatur verspannt. Hinweise auf einen vorausgegangenen Sturz finden sich nicht. Die am gleichen Tag veranlasste Bestimmung der Harnsäure ergibt einen deutlich erhöhten Wert von 10,4 mg%. Der Blutzucker liegt postprandial bei 140 mg%.

Unter der Annahme einer akuten Gichtarthritis mit Befall des Großzehengrundgelenkes und Beteiligung der unteren HWS erfolgt eine intramuskuläre Injektion von Diclofenac und Dexamethason. Nach einer kurzfristigen Besserung der Beschwerden klagt der Patient über abendliches Fieber bis 38,5 °C, allgemeines Unwohlsein, Gewichtsverlust und anhaltende Schmerzen im Schulter-/Nackenbereich. Unverändert findet sich ein ausgeprägter Druck- und Klopfschmerz im Bereich der unteren Halswirbelsäule. Eine „Spritzenserie“ mit nichtsteroidalen Antirheumatika, Kortikosteroiden und Vitamin B 12 sowie die paravertebrale Infiltration mit Lokalanästhetika bessern zwar die lokalen Schmerzen, nicht jedoch die allgemeinen Krankheitssymptome. Nachdem ein Anstieg der Leukozyten auf 25 000/Mikroliter, der BSG auf 74/88 mm/h n. W. sowie des CRP auf 92 mg/l festgestellt wird, erfolgt die Überweisung zum Orthopäden. Die röntgenologische Untersuchung der HWS ergibt „weit fortgeschrittene degenerative Veränderungen der unteren HWS“. Das Beschwerdebild wird insgesamt als chronische Zervikobrachialgie eingeordnet und als therapeutische Maßnahme die erneute intramuskuläre Injektion von Diclofenac und Dexamethason sowie die Injektion von Carbostesin in die Bursa subacromialis beidseits vorgenommen.

Am darauf folgenden Wochenende verschlechtert sich der Zustand des Patienten dramatisch. Unter der Verdachtsdiagnose einer Septikämie erfolgt die stationäre Einweisung. In der Klinik Nachweis von Staphylococcus aureus in der Blutkultur. Röntgenologisch Nachweis von Osteolysen und einer Spondylodiszitis im Bereich des 5. und 6. Halswirbels. Wenige Stunden später Auftreten einer schlaffen Tetraplegie. Trotz sofortiger neurochirurgischer Intervention bleibendes Querschnittsyndrom.

(Quelle: mod. Scherer u. Niebling 2005)

Stichwörter:

  • heftige Schmerzen im Großzehengrundgelenk und in der Nackenregion
  • Alkoholexzesse, Diabetes mellitus, Hyperurikämie
  • „Spritzenserie“ mit NSRA, Kortikosteroiden und Vit. B 12
  • Rö. HWS: erhebliche Degeneration
  • Septikämie
  • Querschnittssyndrom
Kommentar:

Die unterschiedlich lokalisierten Schmerzen des langjährig in der Praxis bekannten Patienten werden fatalerweise der ohne Zweifel exazerbierten Gichtarthritis zugeordnet. Es erfolgt die risikoreiche intramuskuläre Injektion eines Antirheumatikums und eines Kortikosteroides. Dies führt zunächst auch zur Besserung der Schmerzsymptomatik (jedoch nur im Bereich des Großzehengrundgelenkes) und verstärkt den Hausarzt in seiner diagnostischen Einschätzung. Nachfolgendes Fieber, die zunehmende Verschlechterung des Allgemeinzustandes und der erwähnte Gewichtsverlust werden nicht als Warnsignale eines abwendbar gefährlichen Verlaufes interpretiert. Trotz der Besorgnis erregenden erhöhten Entzündungsparameter erfolgt nicht die stationäre Einweisung zur weiteren Abklärung, sondern eine Überweisung zum Orthopäden ohne klaren Auftrag oder Fragestellung. Dessen Fehleinschätzung der röntgenologisch erkennbaren Osteolysen im Bereich der unteren HWS als „schwerste degenerative Veränderungen“ führte zur Fortsetzung der „Spritzenserie“ mit den bekannten katastrophalen Folgen.

Keineswegs ist es Ziel dieses Fallberichts, seltene Ursachen von Nackenschmerzen über Gebühr zu gewichten – im Gegenteil. Gerade weil die klinische Bedeutung von Nackenschmerzen hinter ihrer psychosozialen und gesundheitsökonomischen Bedeutung klar zurücktritt, ist auf die wenigen gefährlichen Verläufe explizit hinzuweisen.

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