Mader : Fakten - Fälle - Fotos®
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3.9.4 Gicht und Arthritis

Zusatzinfo

Wissenswertes

Die Existenz der Gicht ist bereits weit vor unserer Zeitrechnung dokumentiert. So setzte Hippokrates 600 vor Christus beim Gichtanfall Colchizin ein. Galeanus (130-201 n. Chr.), Leibarzt des Kaisers Marc Aurel, meinte, dass die Gicht auf eine vom Blut ausgehende Säurebildung im Gelenk zurückzuführen sei. Parcelsus (1493-1541) bezeichnete mit den sog. „tatarischen Krankheiten“ stoffwechselbedingte Erkrankungen, zu welchen er – als durch Ablagerungen verursacht – die Gicht zählte. Der Begriff „Gicht“ findet seinen Ursprung in der Volksmedizin des 12. Jahrhunderts (Tausche et al. 2006).

Etwa 25 % der Gesamtbevölkerung der westlichen Länder weisen einen erhöhten Harnsäurespiegel (Hyperurikämie) auf. Erst wenn Symptome auftreten, besitzt die Hyperurikämie einen Krankheitswert und wird als Gicht bezeichnet.

Die Hyperurikämie kann primäre oder sekundäre Ursachen haben. Die primäre Form macht über 90 % der Fälle aus; sie beruht meist auf einer genetischen Veranlagung, bei der fast immer die renale Harnsäuresekretion gestört ist. Die sekundäre Form wird z. B. durch Nierenerkrankungen, Malignome, Alkoholkonsum (Bier!), Medikamente (z. B. Thiazid-Diuretika, low-dose-Aspirin) oder purinreiche Ernährung verursacht. Die primäre Hyperurikämie als polygen vererbte Stoffwechselerkrankung wird erst bei purinreicher Ernährung und Übergewicht manifest (über 90 % der Fälle).

Vermehrter Fleisch-(Innereien!), Fisch- und Meeresfrüchtekonsum erhöht das Risiko für Gicht eindeutig, dagegen senken (fettarme) Milchprodukte das Risiko massiv. (Choi 2004) Trigger für Gichtanfälle sind zumeist ein plötzlicher Serumharnsäureanstieg, wie z. B. bei Nahrungs- und Alkoholexzess. Patienten mit Gicht haben ein bis zu 2,5-fach höheres Risiko für die Bildung von Harnsäuresteinen mit Entwicklung einer Uratnephropathie.


Gicht und Geschlecht

Frauen, die an Gicht leiden, haben ein deutlich erhöhtes Herzinfarktrisiko. In einer siebenjährigen Beobachtungsstudie lag es um 40 % höher als das von Frauen ohne Gicht. Bei Männern ist ein solcher Zusammenhang bereits aus früheren Studien bekannt.


Gichtanfall

Im akuten Gichtanfall muss die Harnsäure im Serum nicht erhöht, sondern kann sogar erniedrigt sein. Für die exakte Diagnose einer Gicht hat der Laborwert daher nur begrenzte Aussagekraft. Typischerweise sind die Entzündungsparameter erhöht (z. B. Leukozyten, BKS oder CRP). Der Goldstandard in der Diagnostik ist die Gelenk- oder Tophuspunktion. Beweisend sind intrazelluläre Harnsäurekristalle.

Merke
Der optimale Zeitpunkt der Messung des Harnsäurespiegels liegt 2-3 Wochen nach einem Anfall.


Alkohol und Gichtanfall

Auch alkoholfreies Bier kann einen Gichtanfall über andere in diesem Getränk enthaltene Substanzen auslösen.


Diagnostik

Die Internistinnen Prof. Dr. med. Monika Reuss- Borst und Dr. med. Anne- Kathrin Tausche befassen sich in der Zeitschrift Der Allgemeinarzt 2017 mit den "Tücken der Diagnostik" beim Bild einer Gicht bei schmerzhafter Monarthritis (PodagraTarsitisGonagra).
http://www.allgemeinarzt-online.de/a/gicht-die-tuecken-der-diagnostik-1819728


Medikamentöse Therapie

Seit der Markteinführung 1964 in Deutschland steht mit dem Xanthinoxidase-Inhibitor Allopurinol ein kostengünstiges Medikament zur Verfügung, das unter Kontrolle der Serumharnsäure einschleichend titriert werden soll (Beginn mit 100 mg und je nach Harnsäurewert Steigerung um 50-100 mg wöchentlich bis max. 800 mg [selten!]).

In einer multinationalen Fall-Kontrollstudie wurde von schweren Arzneimittelreaktionen an der Haut (Stevens-Johnson-Syndrom und toxischer epidermaler Nekrolyse) am häufigsten unter Allopurinol berichtet (Dt Arztebl 2009; 106(36):C1477).

Bei eingeschränkter Nierenfunktion muss eine Dosisanpassung erfolgen.

Bei Unverträglichkeit oder Kontraindikationen für Allopurinol kann der Xanthinoxidase-Inhibitor Febuxostat eine Alternative darstellen (Abbau über die Leber anstelle der Nieren) (Tausche AK et al. 2009).

Das nach wie vor optional in der Literatur angeführte Benzbromaron wurde wegen Nephropathie (Steinbildung) und Leberschädigung vom Markt genommen.


Akuter Gichtanfall

Je höher der Serumspiegel der Harnsäure, desto wahrscheinlicher wird früher oder später ein Gichtanfall. Die Akutbehandlung beschreibt der Schweizer Rheumatologe Dr. A. Krebs in der Zeitschrift Der Allgemeinarzt (2021) 2: 25-27
https://allgemeinarzt.digital/epaper-data/Der-Allgemeinarzt-2021_2/24/index.html


Allgemeine Maßnahmen

  • Einschränkung der Purinzufuhr [besonders Leber, Niere, rotes Fleisch, kleine muskelreiche Fische wie Sardinen, Hülsenfrüchte, Vollkornprodukte, Bier (Purine!)];
  • Alkohol (erhöhte Laktatkonzentrationen im Blut; die Harnsäureausscheidung wird dadurch reduziert);
  • Gewichtsreduktion;
  • ausreichende Flüssigkeitszufuhr.

 

Merke
Gewaltdiäten können wegen der entstehenden Ketose mit Erhöhung der Harnsäurewerte zu einem weiteren Gichtanfall führen.


Leitlinie

DEGAM-S1-Handlungsempfehlung "Akute Gicht in der hausärztlichen Versorgung" 
http://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/053-032bk_S1_akute_Gicht_2013-10.pdf


Fallbeispiel

Kasuistik 3.9.4-1: "Gicht und Zeckenbiss"

G. A., 61 Jahre; Pfingstdienstag, volles Wartezimmer.

„Ich glaub, ich hab die Gicht, da schaun Sie meinen Fuß an.“
Patient präsentiert ein zweiseitiges Laborblatt von einem auswärtigen Arzt mit u. a. einer grenzwertigen Harnsäure von 6,92 mg% und zeigt zugleich auf den schmerzhaften Sehnenansatz am Fersenbein rechts: "Da, am Achilles, wenn ich geh, tut das saumäßig weh.“
Wie kommen Sie zu diesen vielen Laborwerten?
„Ich war beim Internisten und wollte mich mal Magenspiegeln lassen. In meiner Familie sind sie alle an Dickdarmkrebs gestorben.
Sie wissen ja auch, ich hatte vor 2 und vor 4 Jahren eine Hüftprothese bekommen.“

Wie lange haben Sie schon die Schmerzen am Fuß?
„Seit 4 Tagen.“
Dann sind Sie wohl während der Pfingsttage fleißig marschiert?
„Und wie!“
Und mit diesen Sandalen?
„Auch, vor allem aber auch mit neuen Haferlschuhen.“

Ich erkläre dem Patienten den möglichen Zusammenhang zwischen falschem Schuhwerk und seinen Schmerzen.

„Und dann habe ich noch was.“ Patient zeigt auf eine gerötete Stelle am linken Oberschenkel: „Ich hatte vor einer Woche einen Zeckenbiss. Und das juckt jetzt.“
Centgroße Rötung. Dermatoskopisch sehe ich lediglich eine Kruste nach Entfernung des Zeckenrestes. Übliche Aufklärung und Durchsicht der Kartei auf Impfungen.

Übung:

Überlegungen und Fragen

  1. Wie beurteilen Sie die extern durchgeführten Laboranalysen im Hinblick auf das Untersuchungsziel „Magenspiegelung“ und auf die jetzigen Fersenbeinschmerzen?
    (Sinnvoll? Überflüssig?)
  2. Wie beurteilen Sie die geklagten Schmerzen im Zusammenhang mit den Harnsäure-Laborwerten?
  3. Welche Informationen geben Sie als Hausärztin dem Patienten bezüglich seines möglichen Zeckenstichesvor 1 Woche?

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