Mader : Fakten - Fälle - Fotos®
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1.4 Klassifizierung der diagnostischen Situation

Zusatzinfo

The problem of classification

„It is very seldom that diseases are found pure and unmixed, as they are commonly described by authors; and there is almost an endless variety of constitutions.”

(Matthew Baille, in: N. Mygind, R.M. Naclerio: “Allergic and non-allergic rhinitis. Clinical aspects”, Munksgaard Verlag, Kopenhagen 1993)

 

Definition Symptom

Im deutschen Sprachbereich sind unter dem Begriff Symptom alle Fakten zu verstehen, die sich in der Sprechstunde oder am Krankenbett verbal oder durch die direkte Untersuchung feststellen lassen.

 

 

Typische Krankheiten

„Was wir als Krankheiten bezeichnen, ist ein buntes Nebeneinander von zusammengefassten Gesundheitsstörungen. Aus der Vielfalt der Variationen bei der Einzelkrankheit hat die Lehre gewisse Zeichen und Abläufe als ‚typisch‘ herausgestellt.“

(Koch R 1917, Mainzer F 1925, Jaspers K 1920)

 

Typisch – Atypisch

Eine wesentliche Aufgabe des Allgemeinarztes besteht darin, mögliche atypische Verläufe zumindest in seinem Denken einzubeziehen, mit äußerster Wachsamkeit gefährliche Entwicklungen im Auge zu behalten und entsprechend zu handeln.


Definition Leitsymptom

Das einzige dominierende Krankheitszeichen (Tabelle) in einer diagnostisch offenen Situation oder in einem diagnostisch offenen Verlauf, das vom Patienten geklagt oder vom Arzt erhoben wird, ohne dass daneben zunächst nennenswert andere mit der Beratungsursache zusammenhängende Krankheitszeichen festgestellt wurden.

 

Tabelle. Alphabetische Zusammenstellung wichtiger bzw. häufiger Leitsymptome und uncharakteristischer Leitbeschwerden anhand einer Literaturrecherche in 13 deutschsprachigen allgemeinmedizinischen Lehrbüchern der Jahre 1980 bis 2000.

Adipositas

Juckreiz

Angst

Kopfschmerzen

Antriebslosigkeit

Krampfanfälle

Appetitlosigkeit

Laborbefunde als führende Zeichen

Atemnot/Dyspnoe

Lähmungen

Aufstoßen/Schluckauf

Leistungsschwäche/Müdigkeit

Augenbrennen

Lymphknotenveränderungen

Augenzeichen

Meteorismus/Flatulenz

Ausschlag, uncharakteristischer

Müdigkeit

Auswurf

Muskelkrämpfe und -schwäche

Bauchschmerzen (Ober- und Unterbauch)

Nervosität

Bewegungsstörungen

Periodenstörungen

Bewußtseinsstörungen

Schlaflosigkeit

Blässe und Anämie

Schmerzen, präkordial

Bluterbrechen

Schmerzen, sonstige

Blutung

Schüttelfrost

Darmblutung

Schwellungen der Extremitäten/sonstige Ödeme

Durchfall

Schwindel

Durst/Trinkstörungen

Sehstörungen

Fieber

Sensibilitätsstörungen

Gelbsucht

Sodbrennen

Geschmacks- und Geruchsstörungen

Sonographische Befunde als führende Zeichen

Gesichtsveränderungen

Sprech- und Sprachstörungen

Gewichtsverlust

Störungen beim Wasserlassen

Globusgefühl

Tinnitus

Halsschwellung und -schmerzen

Traurigkeit

Hämaturie

Übelkeit/Erbrechen

Haut- und Haarveränderungen

Verstopfung

Heiserkeit/Husten

Zittern

Herzklopfen und Herzrhythmusstörungen

Zungenbrennen

Hoher Blutdruck

Zyanose

Hörstörungen

 


Beispiele für häufige Leitsymptome in der Allgemeinpraxis

Kopfschmerz, Schwindel, Kreuzschmerz, Kloß im Hals (Globus-Gefühl). Die Leitsymptome Fieber und Schmerz verursachen etwa 70 % der Hausbesuche bei akut Kranken (Jork 1978).

 

Beispiele für wichtige Leitsymptome im chirurgischen Versorgungsbereich

Akuter Abdominalschmerz, Erbrechen, Dysphagie, gastrointestinale Blutung, Ikterus und Raumforderung im Abdomen.

 

Wichtige Leitsymptome im Bereich des Verdauungstraktes

Oberbauchschmerzen, Sodbrennen, Blut im Stuhl, chronischer Durchfall und Ikterus.

 

Merke

Ein (Leit-)symptom (z. B. Blässe) muss nicht immer Beschwerden (z. B. Müdigkeit) machen.

 

Bedrohliche Leitsymptome

Grundsätzlich kann jedes Symptom das Leitsymptom für einen möglichen AGV sein. Als besonders bedrohliche Leitsymptome können wegen ihrer Akuität und/oder des möglicherweise rasch einsetzenden Abwendbar gefährlichen Verlaufs gelten: Schmerz, Bewußtlosigkeit, Schock, Kollaps, Kreislaufstillstand, Krämpfe, Bluthusten, Bluterbrechen, Herzrhythmusstörungen, hohes Fieber, Erregungszustand und viele andere.

 

 

Behandlungsdiagnose

Behandlungsdiagnosen sind im Vertragsarztrecht im Sinne der Ambulanten Kodierrichtlinien (AKR) Diagnosen inkl. des zugehörigen Zusatzkennzeichens für die Diagnosensicherheit, für die im abzurechnenden Quartal Leistungen erbracht wurden (DÄ 2011, 108:165-167).

 

Diagnosefehler

„Der Arzt schuldet dem Patienten nicht in jedem Fall die objektiv richtige Diagnose, sondern lediglich eine Untersuchung nach den Regeln der ärztlichen Heilkunde“, so die Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen der norddeutschen Ärztekammern. Gemeint ist wohl statt „Diagnose“ der Begriff „Diagnostik“.

 

Arbeitsdiagnose

„Die einmal gewonnene Diagnose (Arbeitsdiagnose) ist fortlaufend im Rahmen der Behandlung zu überprüfen und notfalls zu korrigieren (vgl. Rieger, Lexikon des Arztrechts RdNr 311; BGH MedR 1983, S.108, 109).

 

Fehldiagnose

Fehldiagnosen sind dem Arzt nur vorwerfbar, wenn ihm eine Sorgfaltspflichtverletzung zur Last fällt, er insbesondere elementare Kontrollbefunde nicht erhoben oder die erste Diagnose im weiteren Behandlungsverlauf nicht überprüft hat. Reichen die eigenen Diagnostikmöglichkeiten nicht aus, so muss er einen Spezialisten hinzuziehen oder den Patienten überweisen (Schlichtungsstelle nordd. ÄK, l.c.).

 

Behandlungsfehler

Ob ein grober bzw. schwerer Behandlungsfehler vorliegt, richtet sich nach den tatsächlichen Umständen des Einzelfalles. Es muss sich um einen „unverständlichen und unverantwortlichen“ Fehler handeln, der dem behandelnden Arzt „schlechterdings nicht unterlaufen“ darf. Das kann z. B. der Fall sein, wenn auf Grund eindeutiger Befunde nicht nach gefestigten Regeln der ärztlichen Heilkunde reagiert wird, oder wenn grundlos Standardmethoden zur Vermeidung möglicher bekannter Risiken nicht angewandt werden und wenn besondere Umstände fehlen, die den Vorwurf des Behandlungsfehlers mildern können (vgl. BGH NJW 1983,2080) (zit. Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen der norddeutschen Ärztekammern, Hannover, o.J.)


Gesundheit und Krankheit

"Der Begriff der Gesundheit selber als Ziel des Menschen ist keineswegs eindeutig" 
(Quelle: Karl Jaspers (1946) Die Idee der Universität)

Die Krankheit ist wohl definiert und tritt überall unter gleichen Erscheinungen auf."
(Quelle: Rudolf Gross (1969))

Gesundheit und Krankheit sind keinesfalls einander scharf ausschließende Kategorien, sondern weisen - vor allem auch in Abhängigkeit vom Lebensalter wechselseitige Überschneidungen auf. Häufig zitiert - aber auch diskutiert - wird die Definition von Gesundheit nach der World Health Organization (WHO) aus dem Jahr 1968: "Health means more than freedom from disease, freedom from pains, freedom from untimely death. It means optimum physical, mental and social efficiancy and welleing." 
http://gesundheitsmanagement.kenline.de/html/definition_gesundheit_krankheit.htm
In der Definition der WHO existiert nur das Ideale, das "Objektive", das Gesunde, das Klassische. Dabei bleibt unberücksichtigt, dass das Subjektive, das Kranke eine andere, in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzende Seite des menschlichen Lebens ist (Kasuistik 1.4-1). Letztlich ist die Gesundheitsdefinition der WHO deswegen so unbrauchbar, weil sie zu allgemein formuliert ist.
Hartmann warnt zugleich auch vor einer "Medikalisierung", in der alles, was in die Hand des Arztes gelegt wird, unter dessen Händen zurKrankheit und zur Be-Handlung wird.
(Quellen: R. Gross (1969) und F. Hartmann (1984))


Befindlichkeit

Dr. med. Jens Bruder, Leiter der Ärztl. Abteilung Pflegen und Wohnen, Norderstedt, formuliert:
"Befindlichkeit ist Summe oder Produkt aller den aktuell erlebten Zustand des wachen Menschen beeinflussenden körperlichen und seelischen Merkmale; sie ist angesiedelt im Spektrum zwischen Wohlbehagen und Unwohlsein. Daraus folgt, dass Befindlichkeit prinzipiell gegenwartsbezogen, deshalb nur kurzdauernd oder sogar flüchtig ist. Wichtig ist, dass Befindlichkeit durch die individuellen Wahrnehmungs- und Verarbeitungsgewohnheiten und -strukturen eines Menschen (mit)bestimmt wird, die ihrerseits prägungsabhängig sind."


Fallbeispiel

Kasuistik 1.4-1: "Wie ein schönes Haus - nur voller Schimmel"

Der 53-jährige Architekt mit Diabetes mellitus: „Ich weiß, ich bin krank, zuckerkrank. Aber nicht so krank wie einer, der den ganzen Tag im Bett liegt oder einer, der Fieber und Schüttelfrost hat oder einer, der vor Schmerzen jammert und weint. Ich mach alles mit meiner Familie mit – mussja, hab noch kleine Kinder und eine junge Frau – und bin mit meinen Freunden unterwegs und im Beruf stehe ich meinen Mann. Nur dieses Pieksen in den Finger beim Messen und diese Spritzen in den Bauch, diese ewigen Insulinkontrollen und Insulininjektionen und dieses du darfst nicht alles essen. Du darfst nicht, du sollst nicht. Und dann das Wissen, was alles noch auf dich zukommt. Die Haut, die Füße, der Kopf – na ja und im Bett hast du dann auch dein Handicap. Ich bin Architekt und vergleiche oft mich und meine Situation mit einem Haus, einem schönen Haus, bei dem alles stimmt: die Ausstattung, die Lage, der Ausblick. Nur einen Fehler hat es, allerdings einen gewaltigen: Schimmel ist im Haus. Im Fundament. In allen Wänden. Feiner, feiner Schimmel. Und den kriegen Sie nicht raus. Nie mehr.“

Übung:

Überlegungen und Fragen

  1. Hat dieser Mensch eine Erkrankung oder eine Krankheit?
    Begründen Sie es!
  2. Wie schätzen Sie die Erkrankung/Krankheit dieses Architekten ein?
    Eher leicht – eher schwer?
  3. Wie beurteilen Sie das Kranksein des Patienten?
    Eher leicht – eher schwer?
  4. Glauben Sie, dassder Betreffende unter seiner Erkrankung bzw. Krankheit bzw. unter seinem Kranksein leidet?
    Eher ja? – Eher nein?
  5. Wie sieht sich der Betreffende selbst?
    Eher gesund? – Eher nicht mehr ganz gesund? – Eher krank?
  6. Wie schätzen Sie die Krankheitsbewältigung des Betreffenden (Coping) ein?
    Eher gut? – Angemessen? – Eher schlecht?
  7. Wie schätzen Sie mögliche Reaktionen der Umwelt auf Krankheit und Kranksein des Architekten ein?

Vor über einem halben Jahrhundert hat der Greifswalder Internist Gerhard Katsch für seine Zuckerkranken den Begriff der bedingten Gesundheit geprägt. Er meinte damit, dass ein richtig ernährter und mit Insulin ausreichend behandelter Diabetiker eigentlich kein Kranker mehr im Sinne des überlieferten Krankheitsbegriffes ist, sondern ein mit allen Fähigkeiten der Gemeinschaft wieder eingegliederter Gesunder. Dieser Ansatz sollte sich auf alle chronischen Krankheiten übertragen lassen. Ein solcher Mensch, der sein Leben zwar in Grenzen, aber in innerem Gleichgewicht erreicht, kann sagen: "Mein Leben". Dazu gehören dann auch "meine Krankheit", "mein Sterben" (F. Hartmann)
 

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